Begründung:
In der Schweiz kommen jedes Jahr viele Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
zur Welt. Gemäss Angaben des Kinderspitals Zürich werden jährlich 85 – 135 Genitaloperati-
onen an Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung durchgeführt. Die Nationale
Ethikkommission (NEK) und die UNO–Ausschüsse CRC, CAT, CCPR, CEDAW empfehlen,
auf die Korrektur des äusseren Genitales im Säuglingsalter möglichst zugunsten des Einbe-
zuges der oder des Betroffenen zu einem späteren Zeitpunkt zu verzichten sowie Betroffe-
nen und Angehörigen eine kostenlose psychosoziale Unterstützung anzubieten. Der Verzicht
auf Korrekturen zwecks Vermeidung der Narbenbildung und Respektierung des Genitales im
unveränderten Zustand stellt die meisten Eltern vor ein grosses Dilemma zwischen Akzep-
tanz der Variante und «Normalisierungswunsch». Dies erfordert eine längerfristige, gut koor-
dinierte Unterstützung für Eltern und Kinder. Das Bestreben der Spitäler muss es sein, die
von der NEK empfohlene konservative Haltung und das Kindeswohl bestmöglich auf das In-
dividuum bezogen und unter Einbezug aller Instanzen zu berücksichtigen.
Die psychosoziale Betreuung von intergeschlechtlichen Menschen und ihren Angehörigen
muss verbessert werden. Viele Eltern sind nach der Geburt ihres Kindes überfordert. Sie ha-
ben sich auf ihr Kind gefreut, doch nun müssen sie ihrer Umgebung erklären, dass es mit
atypischen Geschlechtsorganen auf die Welt kam. Eine Operation oder eine Hormonbehand-
lung scheint das «Problem» zu beseitigen. Wenn das Kind nicht behandelt wird, fehlt oft jeg-
liche Begleitung. Doch die Eltern und später auch das Kind benötigen dringend eine psycho-
soziale und psychologische Betreuung, was auch von der NEK und den UNO–Ausschüssen
CRC, CAT, CCPR und CEDAW gefordert wird.
Die Selbsthilfegruppen für intergeschlechtliche Menschen und deren Eltern sind sehr wich-
tige Anlaufstellen. Diese Anlaufstellen werden von den Kliniken zu wenig genutzt und sind
dadurch leider zu wenig bekannt und verfügen über zu wenig finanzielle Mittel. Doch gerade
der Kontakt zu anderen betroffenen Personen kann den Eltern, Angehörigen und den Be-
troffenen eine niederschwellige und sehr gute Unterstützung bieten. Wichtig ist, dass die Kin-
der, so wie sie sind, geachtet und anerkannt werden.
Eine psychosoziale und psychotherapeutische Begleitung von intergeschlechtlichen Men-
schen ist oftmals notwendig, hängt aber auch von der Qualität des initialen Behandlungsset-
tings ab. Die Kosten der chirurgischen und medizinischen Behandlung werden in der Regel
von der IV getragen, die Kosten für psychosoziale und psychotherapeutische Unterstützung
werden aber nur ungenügend abgedeckt:
Die interdisziplinäre Sitzungen, die Beratungsgespräche mit den Eltern und der ganze SDM–
Prozess, in dem eine Expertengruppe die Therapiemöglichkeiten und die weitere Behand-
lung bespricht, werden weder durch den TARMED noch durch die IV vergütet (die IV Liste
der Geburtsgebrechen finanziert die meisten Genitaloperationen). Durch den Einbezug der
Selbsthilfegruppen in den SDM resultiert eine medizinisch bessere Behandlung, welche ins-
gesamt am Schluss oft auch finanziell günstiger ausfällt, als wenn verfrüht oder zum falschen
Zeitpunkt vergütete Eingriffe durchgeführt werden.
Die heute nicht gedeckten Kosten im SDM Prozess bewegen sich je nach Patientin oder Pa-
tient im vier– bis fünfstelligen Bereich. Diese Kosten trägt das Spital oder eine allfällige Dritt-
mittelstelle. Selbst dies geschieht aber oft nur dann, wenn ein Kind auch operativ und/oder
hormonell behandelt wird. Das widerspricht den Vorgaben der NEK und der UNO.
Zudem ist eine bessere Integration dieser Thematik in die Aus–, Weiter– und Fortbildungscur-
ricula der Spitäler, der Universität, der Pflegefachhochschulen und in der Hebammenausbil-
dung erstrebenswert.
Wichtig ist es, am Anfang, bei der Geburt die richtigen Weichen zu stellen.