Menschen mit Behinderungen machen 22 Prozent der Bevölkerung aus, das sind 1,8 Mio. Personen in der Schweiz. Inklusion betrifft also viele. Weshalb hat die AG Inklusion dieses Positionspapier gerade jetzt ausgearbeitet?
Islam Alijaj: Weil wir jetzt ein «Window of Opportunity» haben und damit einen optimalen Zeitpunkt, um tatsächliche Inklusion umzusetzen. Wir Menschen mit Behinderungen haben genug! Wir wollen nicht mehr warten und vor allem nicht mehr zurückstecken. Und dafür setzen wir uns auch ein. 2023 fand die Behindertensession im Parlament statt. Die Inklusionsinitiative haben wir 2024 eingereicht. Und kurz vor Weihnachten präsentierte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider sogar einen Vorschlag für ein Inklusionsgesetz.
Die SP Schweiz kämpft seit langem für Inklusion. Woran müssen wir innerhalb der Partei noch arbeiten?
Ich denke, die SP ist bereits sehr gut unterwegs. Doch wie überall gilt es, am Mindset zu arbeiten. Das ist kein Vorwurf: Wir alle sind damit aufgewachsen, zu denken, dass Menschen mit Behinderungen arme, hilflose Geschöpfe sind. Doch wir haben ein Potential, das wir entfalten wollen. Sei es in der Schule, in der Wirtschaft oder eben in der Politik. Bei der politischen Partizipation kann die SP einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, um diese voranzutreiben. Zum Beispiel, indem sie aktiv Menschen mit Behinderungen motiviert, für ein Amt zu kandidieren, etwa für den Gemeinderat oder den Kantonsrat.
Die Schweiz hat die UN-Behindertenrechtskonvention bisher nur unzureichend umgesetzt. Wo wird die Umsetzung blockiert?
Ja, es fehlt an einer konsequenten Umsetzung. Es gibt weder eine umfassende Strategie noch einen Aktionsplan. Gesetze werden weiterhin ohne die Beteiligung von Betroffenen und aus einem defizitorientierten Verständnis von Behinderung heraus erlassen. Um die von der BRK geforderte Inklusion endlich umzusetzen, braucht es aber klare Ziele, Zuständigkeiten und einen verbindlichen Plan.
Welche Massnahmen braucht es, um Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen und die Ausbeutung in geschützten Werkstätten zu beenden?
Der Schlüssel hier ist Assistenz, die nicht von Arbeitgeber:innen-Seite getragen wird. Die IV sollte die Assistenzbeiträge so ausbauen, dass Betroffene im Beruf ihre Behinderungen egalisieren können. Ausserdem können Menschen im zweiten Arbeitsmarkt keine Altersvorsorge aufbauen, weil das nicht vorgesehen ist. Das müssen wir als gewerkschaftliche Stimme ändern.
Die AG Inklusion übt im Positionspapier viel Kritik an Sozialversicherungen wie der IV. Was funktioniert nicht?
Auch die IV ist noch im Mindset des letzten Jahrhunderts und hat das Bild des armen, hilflosen Geschöpfes im Kopf. Und dieses arbeitet nicht, sondern ist auf Hilfe und Fürsorge angewiesen. Auch das müssen wir ändern.
Was sind die dringendsten Schritte, um Barrierefreiheit im öffentlichen Raum zu gewährleisten?
Priorität sehe ich aktuell beim öffentlichen Verkehr. Seit über einem Jahr befinden wir uns in einem gesetzeswidrigen Zustand, denn eigentlich hätte per 1. Januar 2024 der gesamte ÖV barrierefrei sein müssen. Es gibt nun einen Austausch über einen gemeinsamen runden Tisch mit allen Stakeholdern, um einen gemeinsamen Umsetzungsplan zu entwickeln.
Im Positionspapier wird ein Paradigmenwechsel hin zur Subjektfinanzierung gefordert. Was bedeutet das konkret?
Ich nehme mich als Beispiel: Durch Assistenz kann ich meine Behinderungen egalisieren. Das bedeutet für mich, dass ich mich beruflich entwickeln und mein politisches Amt als Nationalrat ausüben kann. So bin ich unabhängig – persönlich, aber auch vom Staat. Durch meine Arbeit ist es mir zudem möglich, mir eine Altersvorsorge aufzubauen, was auch beträchtlich zu meiner Unabhängigkeit beiträgt. Die Subjektfinanzierung stellt den Menschen in den Vordergrund und ermöglicht damit ein selbstbestimmtes Leben mit allem, was dazugehört: Wohnen, Arbeiten, Kultur usw.
Menschen mit Behinderungen sind auf und nach der Flucht mit hohen Hürden konfrontiert. Wo liegen hier die besonderen Schwierigkeiten?
Die Unterkünfte für Asylsuchende sind oftmals nicht barrierefrei und die Behörden, die ohnehin schon überfordert sind, wissen nicht, wie mit Behinderungen umgehen. Und es fehlt an einer behördenübergreifenden Zusammenarbeit.
Welche strukturellen Massnahmen sind notwendig, um Frauen mit Behinderungen besser vor Gewalt und Missbrauch zu schützen, sowohl im privaten Umfeld als auch in Institutionen?
Auch hier muss am Mindset gearbeitet werden – ich wiederhole mich. Zudem müssen Anlaufstellen auch barrierefrei gestaltet sein. Es gibt nur ein einziges barrierefreies Frauenhaus, das befindet sich in Chur. Das ist viel zu wenig. Beratungsangebote zum Beispiel müssen in Gebärdensprache, in leichter Sprache und in Brailleschrift angeboten werden, um den Zugang barrierefrei zu ermöglichen. Und die Gesellschaft darf nicht wegschauen: Gerade sexualisierte Gewalt passiert auch in diesem Kontext oft.