Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich erinnere mich gut an jenen Abend, als ich das erste Mal nach Farvagny kam. Das war 1984. Das Konservatorium Freiburg eröffnete in Farvagny eine Aussenstelle. Ich sollte dort den Klavierunterricht übernehmen. Ich weiss nicht, welchen Eindruck ich an jenem Abend gemacht habe. Vermutlich habe ich gar nicht viel gesagt. Vielleicht, weil der Direktor des Konservatoriums lieber selber sprach, vielleicht aber auch, weil ich seit meiner Schulzeit nicht mehr Französisch gesprochen hatte. Offenbar war der Eindruck, den ich hinterliess, aber nicht allzu schlecht. Jedenfalls meldeten sich nachher eine ganze Reihe von Kindern und Jugendlichen für den Klavierunterricht an. Und so fuhr ich während der nächsten Jahre nach Farvagny, um dort Klavier zu unterrichten, und um die jungen Trompeten-, Klarinetten- und Posauneschüler auf dem Klavier zu begleiten.
Ich habe versucht, den Kindern die Sprache der Musik näher zu bringen.
Sie haben mich die französische Sprache – nebst der Musik eine der schönsten Sprachen! – gelehrt. Als meine Zeit in Farvagny zu Ende ging, haben mir die Eltern einer Schülerin 12 Weingläser geschenkt. Ich habe immer noch ein paar dieser Gläser. Eine andere Schülerin hat mir ein fantastisches Kochbuch geschenkt. Ich benutze es heute noch. Und sogar die Wollsocken, die mir die Mutter einer Schülerin schenkte, trage ich noch ab und zu – allerdings nicht bei der Arbeit.
Und heute bin ich also zurück in Farvagny. Ich bin sehr gerne gekommen, weil es für mich eine Art „Heimkehr“ ist. Gleichzeitig macht es mir auch bewusst: Da liegt nicht nur eine lange Zeit dazwischen, sondern auch ein weiter Weg!
Auf diesem Weg hat sich vieles verändert. Farvagny-le-Grand und Farvagny-le-Petit, Grenilles und Posat haben fusioniert. Ich kann mir vorstellen, dass das kein einfacher Prozess war.
Auch mein Leben hat sich in diesen Jahren verändert.
Ich trage heute andere Kleider, die Haare sind kürzer als damals. Und ich habe mich auch beruflich verändert. Heute bin ich Mitglied eines Septetts. Wir spielen jeden Mittwochmorgen zusammen – meistens harmonieren wir recht gut, aber manchmal tönt es auch ziemlich rustikal …
Auch bei mir ist heute also vieles anders als früher. Ich bin nicht mehr genau die gleiche wie
damals. Und doch bin ich kein anderer Mensch geworden.
Das Gleiche gilt auch für eine Gemeinde oder ein Land.
Nicht nur Menschen haben eine Identität – auch Gemeinden, Kantone und Staaten haben ihre Identitäten. Und auch für sie gilt: Identität und Wandel sind keine Gegensätze.
Ein Beispiel:
Frauen und Männer haben heute die gleichen politischen Rechte. Und doch war das vor nicht allzu langer Zeit anders; das Frauenstimmrecht wurde erst 1971 eingeführt. Das war eine einschneidende Veränderung. Und niemand käme heute auf die Idee zu sagen, diese Veränderung habe unserer Identität geschadet. Vor zwei Jahren waren die Frauen in der Landesregierung dann kurzzeitig sogar in der Mehrheit. Das hat einiges ausgelöst: Es gibt jedenfalls Leute, die behaupten, ohne Frauenmehrheit im Bundesrat wäre der Atomausstieg nicht beschlossen worden.
Ein zweites Beispiel:
Wie oft hat man in den letzten Jahrzehnten gehört, das Bankgeheimnis sei – ähnlich wie der Schweizer Käse – fester Bestandteil der Schweizer Identität. Wir wissen alle: Das Bankgeheimnis wird zunehmend aufgeweicht. Böse Zungen behaupten sogar, das Bankgeheimnis sei so löchrig geworden, dass es in der Tat immer mehr dem Schweizer Käse gleiche – aber nicht einem harten Greyerzer, sondern einem löchrigen Emmentaler. Droht die Schweiz ohne Bankgeheimnis ihre Identität zu verlieren? Nein, ganz gewiss nicht. Ein Finanzplatz, der sich durch hohe Kompetenz auszeichnet, wird sich im internationalen Wettbewerb auch weiterhin behaupten können.
Ich glaube, wir sind uns einig: Solche Veränderungen können an den Grundfesten unseres Landes nicht rütteln.
Ein Mensch mit einer gefestigten Identität braucht Veränderungen nicht zu fürchten.
Dasselbe gilt für einen Staat: Ein Land mit einer starken Identität kann dem Wandel offen begegnen.
Veränderungen gibt es immer – in jedem Leben, auch im Leben eines Staates. Die Schweiz hat sich schon früher schnell und stark verändert. Vergessen wir nicht, wie arm unser Land noch vor hundertfünfzig Jahren war. Menschen verliessen unser Land, weil die wirtschaftliche Situation so schlecht war, dass sie keine Perspektive hatten. Die Schweiz war ein Auswanderungsland. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Schweiz einen enormen Aufschwung. Wir profitierten von der Aufbruchstimmung in vielen europäischen Staaten. Ohne die hunderttausenden von Arbeitskräften, die wir vor allem aus Italien und anderen südeuropäischen Ländern in unser Land geholt haben, hätten wir diesen wirtschaftlichen Aufschwung nicht geschafft. Die Schweiz wurde zum Einwanderungsland. Hat die Schweiz deshalb ihre Identität verloren?
Heute wissen wir: nein! Im Gegenteil, eine der ganz grossen Stärken unseres Landes war stets die Integration. Wir haben es immer wieder geschafft, dass Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, mit verschiedenen Sprachen und Traditionen friedlich miteinander leben. Diese Fähigkeit des Zusammenlebens ist in der Schweiz besonders stark ausgeprägt, weil wir alle in der Schweiz immer wieder auch in der Minderheit sind: sprachlich, politisch, aufgrund der religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit. Deshalb wissen wir auch, wie wichtig es ist, dass die Mehrheit auf die Minderheit Rücksicht nimmt.
Der Kanton Freiburg ist hierfür ein besonderes Vorbild: ein Brückenkanton, der zwischen der deutschen und der französischen Schweiz vermittelt. Das hat den Kanton Freiburg attraktiv gemacht. Freiburg gehört zu jenen Kantonen, die in den letzten zehn Jahren bevölkerungsmässig am stärksten gewachsen sind. Hat Freiburg deshalb seine Identität verloren?
Davon hätte ich nichts wahrgenommen. Was ich hingegen sehr wohl wahrgenommen habe, ist, dass der Kanton Freiburg an Kraft gewonnen hat. Und zwar nicht nur wirtschaftlich: Auch politisch ist der Kanton Freiburg heute ein Schwergewicht: Kaum ein anderer Kanton hat so viele bekannte – und beliebte! – Politikerinnen und Politiker wie der Kanton Freiburg.
Meine Damen und Herren,
wir leben in einem Land, das sich in den letzten Jahren sehr rasch und sehr stark verändert hat: Es ist gut, wenn wir uns immer wieder fragen, was diese Veränderungen auslösen, und es ist wichtig, wenn wir uns auf unsere Identität besinnen:
- Identität aber heisst nicht Stillstand,
- Identität bedeutet nicht, dass wir den Wandel ablehnen,
- unsere Identität wird nicht bedroht, nur weil mehr Menschen in unser Land kommen.
Im Gegenteil: Gerade weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass der Wandel uns stark macht, und dass wir Veränderungen nutzen können, um unser Land vorwärts zu bringen, kön-nen wir offen und zuversichtlich in die Zukunft schauen.
Aber: Nicht jeder Wandel ist einfach nur gut. Wir verkraften die Bevölkerungszunahme, aber nur wenn wir in der Raumplanung die richtigen Entscheidungen treffen. Hier haben wir in den letzten Jahrzehnten einiges falsch gemacht, auch im Kanton Freiburg. Wir müssen nicht weniger bauen, aber wir müssen die Zersiedelung unserer Landschaft stoppen. Denn auch in Zukunft soll eines der Markenzeichen der Schweiz die Natur und die Landschaft sein.
Auch Farvagny hat sich verändert, seit ich hier Klavier unterrichtet habe. Und doch ist Farvagny auch heute noch unverkennbar Farvagny. Ich habe viele Gesichter gesehen, die sich etwas verändert haben – ich bin nicht die einzige, die seither etwas älter geworden ist. Aber ich bin heute auch der gleichen Herzlichkeit und Wärme begegnet, die mir schon vor 30 Jahren auffiel.
Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie Ihre persönlichen Veränderungen immer wieder positiv erleben, und ich wünsche uns allen, dass unser Land dem Wandel auch in Zukunft offen und mit Zuversicht begegnet.