Soziale Gerechtigkeit statt Ausgrenzung!

Rede zum 1. Mai 2015 in Olten (SO)

Kolleginnen und Kollegen, willkommen zur Jubiläumsfeier: 125 Jahre 1. Mai – auch in der Schweiz. Ihr glaubt es kaum? Ihr meint, Oligarchen und Patriarchen setzten sich durch, rücksichtlose Unternehmer setzen ungebremst die Ausbeutung der arbeitnehmenden Bevölkerung fort, Ausgrenzung und Rassismus seien Standard und in Armenhäusern und Pflegeanstalten würden Mittellose und Kranke dem eigenen Schicksal überlassen?

Nein! Höchstarbeitszeiten und Ferienansprüche, Mitwirkung und Gesundheitsschutz, Altersrente und Krankenversicherung sind gesetzlich geregelt, knapp die Hälfte der Arbeitnehmenden in der Schweiz ist einem GAV unterstellt. Nicht wenige Kinder von Arbeiterinnen und Angestellten besuchen höhere Schulen. Wirtschaft und Politik wollen zumindest im Leitbild auf die Gleichstellung zwischen Mann und Frau hinwirken und Lohnungleichheit kann eingeklagt werden. Sozialhilfe sichert zwar nicht immer die Würde, bewahrt aber zumindest meist vor purer existentieller Not. Viele unserer Wohnungen und Häuser sind so gebaut, dass sie Wasser und Stürmen trotzen und Strom und Wasser stehen zur Verfügung. In Krisensituationen zahlt nicht selten eine Versicherung den materiellen Schaden. Auch im Alter findet sich ein Zuhause mit Pflege in einem Altersheim, auch wenn die Kosten längst nicht mehr aus eigener Kraft getragen werden können. Wenn auch auf Druck der Amerikaner, so musste die Finanzindustrie in der Schweiz doch anerkennen, dass unsere seit Jahrzehnten geforderte Weissgeldstrategie das Gegenwarts- und Zukunftsmodell ist.

Kann zu diesen gesellschaftlichen Erfolgen ein eher selbstbewusster Zürcher Medienunternehmer prahlen: «Isch mini Idee gsi»? Sorry, Roger Schawinski, diese Ideen stammen nicht von dir, sondern aus der Innovationsküche der Gewerkschaften. Natürlich entstanden diese Fortschritte nicht auf dem Reisbrett in Gewerkschaftsbüros, sondern als Antwort auf pure Not, auf Leiden und aus Hoffnung als kollektive Bewegung. Nicht nur der Weg zur Umsetzung einer Mutterschaftsversicherung dauerte Jahrzehnte, auch all die anderen aufgeführten Errungenschaften.

Kolleginnen und Kollegen, der 125ste 1. Mai ist ein Feiertag – es lebe die internationale Solidarität!

Vor zwei Tagen durfte ich in dieser wunderschönen Eisenbahnerstadt, in der ich selbst anfangs der 1990er Jahre einige Jahre verbracht hatte, der Verleihung des Cornichons, des schweizerischen Kabarettpreises 2015, beiwohnen. Es wurde gelacht, laut gelacht, auch über die Missstände in unserer Gesellschaft. Ich denke, die Vorschläge aus der Solothurner Handelskammer zur Eurokrise bzw. Frankenstärke, als reqiuemhaftes Rezitieren der erträumten national-bürgerlichen Verbrüderung, vorgetragen durch einen Ministranten selbst vom Karren gefallener Lehre, jetzt als neoliberal eingestuft, just aus dieser stolzen Stadt, würde einen wohlverdienten Auftritt an diesen Oltner Kabaretttagen erhalten müssen. Und ich darf freimütig bekennen – wenn als Präsident des Blauen Kreuzes auch lieber mit Apfelsaft: Ich hätte nach einer solchen Darbietung dem Darsteller fröhlich «zuprobsten», ich meine natürlich zuprosten können mit Verständnis für alle, die zu den Ideen passend einen Schnaps vorgezogen hätten.

Aber, Kolleginnen und Kollegen: Trotz Cabarett-Reife wurden die Vorschläge in anderem Umfeld vorgetragen, was eher komisch als lustig anmutet. Offenbar wagen es neoliberale Fanatiker, überwunden geglaubte Instrumente aus dem ideologischen Gruselkabinett verstaubter Ideen hervor zu graben:

  • Weitere Steuerprivilegien für Unternehmen – und dies nach Frühlingslüge bzw. Merzlüge gegenüber dem Volk im Abstimmungsheft des damaligen FDP-Finanzministers zur USR II-Reform;
  • Reduzierte Gebühren für Unternehmen – obwohl gerade die Bürgerlichen jeweils nach dem kostendeckenden Verursacherprinzip staatlicher Leistungen schrien;
  • Lohnmeldepflicht abschaffen – entgegen dem Willen rechtschaffener Handwerkerpatrons, die Chancengleichheit der Anbieter verlangen;
  • Vereinfachte Verfahren für Schichtbetriebe – im Wissen, dass Schichtarbeit höchste Anforderungen an Gesundheit und soziales Leben abverlangt;
  • Grosszügige Abschreibungspraxis – um exzessartige Steuerreduktionen auch bei hohem Gewinn zu ermöglichen;
  • Steuern und Löhne in Euro – damit die Risiken entgegen jeglichem Geleier von Selbstverantwortung bequem an die Arbeitnehmenden und den Staat abgeschoben werden können;
  • Reduktion der Pensionskassenaufsicht – wohl um die Gefährdung der Altersrenten wieder vertuschen zu können.

Kolleginnen und Kollegen, ihr wisst es: Die heutigen gesellschaftlichen Errungenschaften fielen uns nicht einfach so in den Schoss, nein, viele verlangten Engagement und auch Kampf über Jahrzehnte hinweg – nicht selten mit einem hohen persönlichen Preis an Ausgrenzung und Verlust der wirtschaftlichen Existenz bezahlt.

Offenbar gibt es in diesem Land, auch in diesem wunderschönen Kanton, ich hörte sagen auch in dieser traditionsreichen Stadt, Menschen, welche die Geschichte des sozialen Friedens vergessen haben: Mit dem Oltner Komitee und dem Blut dreier unserer Kollegen, welche unseren Kampf in Grenchen 1918 mit dem Leben bezahlten, sollten sich Menschen aller Stände und Herkünfte des Werts des Friedens neu bewusst werden. Wenn selbst das Kampfblatt eines falsch verstandenen Liberalismus namens «Wirtschaftsflash» die Frage stellt, ob mit dem missratenen Versuch des bürgerlichen Schulterschlusses nicht der Bogen überspannt worden sei, wird es offensichtlich: Der Handelskammer-Schuss vor den Bug könnte sehr wohl von einem Oltner Selbstläufer ausgelöst worden sein.

Im Magazin «INSIST» veröffentlichte ich anfangs Monat eine Kolumne. Die quartalsweise erscheinende Zeitschrift widmete diese Nummer dem Thema Alter. Unter dem Titel «Neuanfang in Würde» berichtete ich darin über eine 84-jährige Frau, welche nach 49 Jahren ihr 3000-Seelen-Dorf verliess, um in der nahegelegenen Kleinstadt eine barrierefreie Wohnung zu beziehen, also in einem Mehrfamilienhaus mit Lift und einer Wohnung ohne Türschwellen und dergleichen. Bereitschaft für neue Beziehungen, eine nahe Bushaltestelle, in der Nähe von Markt und Geschäften trieben sie unter anderem zu diesem Schritt. Dieser mutige Aufbruch wurde entscheidend erleichtert durch eine sichere AHV-Rente und eine anständige Rente aus der Pensionskasse. Während Bürgerliche aktuellen und zukünftigen Renten auf die Pelle rücken wollen, haben Gewerkschaften und SP eine ganz andere Antwort: Die AHVplus-Initiative. Viele von Euch haben ebenfalls Unterschriften gesammelt, damit die AHV-Renten um 10 Prozent erhöht werden sollen, also eine monatliche Rentenverbesserung von rund 200 Franken für Alleinstehende und 350 Franken für Ehepaare. Es freut mich übrigens, dass meine mutige 84-jährige Mutter nun auch in diesem Saal ist.

Aber nicht nur die Einkommensentwicklung der Rentnerinnen und Rentner muss gesichert werden. Um 40 Prozent sind die höchsten Löhne seit 1996 real gestiegen. Tiefe und mittlere Löhne legten nur um 8 bzw. 12 Prozent zu, Berufsleute mit einer Lehre mussten sich gar mit weniger als 5 Prozent begnügen. Es geht nicht, dass in unserem Land Normal- und Wenigverdienende wegen Abbau des Service Public und ständiger Steigerung der Krankenkassen-Prämien faktisch an Wohlstand verlieren, während sich Topverdienende zustossend die Boni ins Unermessliche erhöhen. Das ist Gift für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft!

Neben der Einkommenssicherung haben SP und Gewerkschaften weitere praktikable Instrumente zur Bewältigung der sich anbahnenden Krise: Sicherheit für ältere Arbeitnehmende durch Kündigungsschutz, eine breite Bildungsoffensive und Vorbereitung von Konjunkturprogrammen. Im Nationalrat habe ich auch Vorstösse eingereicht zur Verwendung der ausgeschütteten Gewinne der Nationalbank und zur Lockerung der Schuldenbremse. In Phasen historisch tiefer Zinse darf und muss auch der Staat in notwendigen und sinnvollen Unterhalt und Ausbau der Infrastruktur investieren. Dass der Bedarf ausgewiesen ist, wissen nicht nur die anwesenden Kolleginnen und Kollegen, welche im Verkehr arbeiten. Der Service Public ist die Leistung, welche den Bewohnerinnen und Bewohnern unseres Landes zusteht. Gerade hat in der Frühjahrsession der Nationalrat die überwiesene Motion zur Festschreibung der Grundversorgung versenkt. Die Grundversorgung ist ein Eckpfeiler, damit Einzelne und das Kollektiv sich entwickeln können: Wasser, Nahrung, Bildung, Gesundheitsdienstleistungen, Mobilität, Wohnraum, Energie und Rechtssicherheit braucht es dazu. Ein «verköppeltes» Gedankengut aus der Weltwoche will uns suggerieren, dass die Errungenschaften des 1848 entstandenen modernen Schweizer Bundesstaates als Grundlage zur Weiterentwicklung in Frage gestellt werden müsse. Vertreter dieses Blödsinns brauchen wir nicht in unserem Parlament.

Nach dem «runden Tisch» vom 13. April um die Volkswirtschaftsvorsteherin unserer Solothurner Regierung scheinen auch dort endlich die Weichen neu gestellt zu werden: Mit der mehrheitlich unterstützten Bildungsoffensive und der Definition einer Industriepolitik – das sind zwei unserer Schwerpunkte – scheint die auf Ideologie basierende Trägheit der Regierungsrätin aus dem Nachtwächtermodus geschaltet worden zu sein. Noch im Herbst 2011 verweigerte diese die Entgegennahme meines Vorstosses im Kantonsrat, eine Solothurner Industriepolitik mit strategischen Schwerpunkten zu definieren. Zynisch mutete dies wenige Monate nach der Schliessung der Papierfabrik Biberist an, wo sie doppelzüngig vor den Betroffenen den Entscheid des Sappi-Headquarters für Europa kritisierte, welche sich mit dem einfachen Dichtmachen des Schweizer Standortes genau nach neoliberalem Credo verhielt. Scintilla und andere mehr lassen grüssen.

Mit der Aufnahme der Förderung erneuerbarer Energien in die Solothurner Verfassung im Mai 2014, welche auf meinen Vorstoss vom Juni 2011 zurückging, hat die Solothurner Regierung nun auch eine weitere Grundlage, um eine innovative Industriepolitik zu fördern, welche mit Cleantech auch unsere Lebensgrundlagen inklusive erfolgreicher Energiewende im Fokus hat.

Am vergangenen Sonntag war ich in einem Gottesdienst, wo wir ein Adonia-Lied von Markus Heusser und Markus Hottiger sangen, worin vorkam: «Unser Land braucht eine neue Vision, neues Vertrauen, Zeichen, Hoffnung und Wunder».

Kolleginnen und Kollegen, an diese Vision glaube ich, darum bete ich, dafür engagiere ich mich, dafür bin ich bereit auch etwas zu riskieren und zu kämpfen. Bei einem Treffen einer parlamentarischen Delegation mit der Heilsarmee in der vergangenen Frühlingssession stellten diese uns deren Auftrag vor: «In dieser Welt von Verletzten, Gebrochenen, Einsamen, Enteigneten, Verlorenen tun wir alles, um sie in Liebe zu erreichen». Kolleginnen und Kollegen, als überzeugter Pazifist bin ich ein Gegner jeglicher Armee. Nach dieser Begegnung musste meine Haltung korrigieren: Es ist wohl die einzige Armee, die eine internationale Vision des Friedens hat und deshalb nicht abgeschafft werden sollte und ich unterstützen kann.

Mit einer solchen Armee hätte eigentlich die Masseneinwanderungsinitiative erfolgreich bekämpft werden können: Was die Urheber dieser unsäglichen Initiative an Zerstörung ethischer Werte gelang, war eine Kriegsansage, welche nicht mit Waffengewalt, aber mit schlagkräftiger Überzeugung und ansteckenden Bekenntnissen hätte besiegt werden müssen.

Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine gemeinsame Vision:

Den Griff in die Mottenkiste egoistischer neoliberaler Rezepte brauchen wir nicht.

Auf Arbeitszeiterhöhung, Überwälzung von Währungsrisiken, Rentenkürzungen, Ferienabstriche und Lohnkürzungen können wir pfeifen.

Auf selbsternannte Retter verzichten wir gerne. Mephisto oder Martullo Blocher und Klöppel Roger passen sicher besser ins Kabarett oder gerade gemeinsam mit Mörgeli ins eigene Gruselkabinett – wo deren neuste Ideen ja bestens passend versteckt, verstaubt und vergessen werden können.

Unsere Vision

  • lässt keinen Platz für Ausgrenzungen;
  • schützt vor jeglicher Diskriminierung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Aushöhlung der Sozialwerke;
  • proklamiert Gerechtigkeit;
  • sichert Einhaltung der Menschenrechte, Bildung und Chancengleichheit, Schutz der ganzen Schöpfung, der Würde und Integration aller Menschen.

Den neoliberalen Staatsabbauern ringen wir mit Mehrheiten und der Kraft der Strasse Zugeständnisse ab: Die Sicherung der Sozialwerke, die Zukunft des Gesundheitswesens, bezahlbaren Wohnraum, in Gesamtarbeitsverträgen geregelte faire Arbeitsverhältnisse; wir schaffen mit Cleantech neue Arbeitsplätze und schützen mit Massnahmen zur Bewahrung der Schöpfung unsere Lebensgrundlagen.

Die Gewerkschaftsbewegung – eng verknüpft mit der Sozialdemokratie – ist eine Erfolgsgeschichte, auch für die Schweiz: Ja, zum 125. Mal feiern wir den 1. Mai und zeigen auf, dass «Werte» unsere Gesellschaft stark machen.

Wir schreiben diese Geschichte fort – zugunsten von Benachteiligten, Einsamen, Schutzbedürftigen, Lohnabhängigen, Flüchtlingen, Gefangenen, Alleinerziehenden, Ausgestossenen, Kranken, Süchtigen und Suchenden. Niemand darf im Meer auf der Flucht ersaufen!

Genossinnen und Kollegen, die Zeiten sind vorbei, dass sich Menschen mit gleichartigen sozialen Anliegen, wenn auch teilweise aus unterschiedlichen Sichtweisen, bekämpfen oder beschimpfen.

Zu weit sind Individualisierung und Entsolidarisierung fortgeschritten, dass sich irgendein Verzetteln der Kräfte noch rechtfertigen liesse. Das Diktat der Profitmaximierer, der selbstbedienenden Manager und Ausgrenzer ist zu gross. Auch heute können fortschrittliche Bewegungen nicht im Alleingang die Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff nehmen.

Das sind wir uns, der gegenwärtigen, aber auch den zukünftigen Generationen schuldig. Jeder Mensch hat Anrecht auf ein Leben in Würde und Respekt! Soziale Gerechtigkeit statt Ausgrenzung!

Die Reduktion von sieben auf sechs Vertreterinnen und Vertreter des Kantons Solothurn im Nationalrat in Bern verspricht einen heissen und harten Wahlkampf. Der 18. Oktober 2015 wird zu einer Richtungswahl der Visionen. Nach vier Jahren Erfahrung und voll im Saft möchte ich wieder dabei sein, für unsere gemeinsame Vision, mit eurer Unterstützung!

Es lebe die internationale Solidarität. Danke!

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