Liebe Kolleginnen und Kollegen
Seit mein Vater am 1. Mai 2004 gestorben ist, habe ich an diesem Tag eigentlich keine Reden mehr halten wollen. Er hatte den Herzinfarkt zwar nicht an einem Umzug, sondern bei sich zu Hause im Garten. Doch für mich wird dieses politische Datum immer auch mit dem privaten Schicksal des zu frühen Todes verbunden sein. Und auch mit dem Gedanken daran, wie viel seine Generation auch für uns Kinder und Enkel erwirtschaftet und entwickelt hat. Er selber war ein Kämpfer im Kleinen. Er hat sich aus bescheidenen Verhältnissen seinen eigenen Küchenbau-Betrieb aufgebaut und hat uns vier Kindern alles zur Selbstverständlichkeit gemacht, was er sich noch hart erkämpfen musste. Vor allem Bildung und Ausbildung. In Gedanken an ihn habe ich stets vor Augen, dass der 1. Mai dafür steht,
- dass nichts einfach ist, wie es ist;
- dass sich die Lebensumstände nicht von selbst verbessern;
- dass alles erstritten und erarbeitet werden muss;
- dass es auf jede und jeden ankommt.
Doch obwohl das alles grundsätzliche Erkenntnisse sind, mussten wir uns in den letzten Jahren regelmässig anhören, dass die Anliegen und Forderungen des 1. Mai überholt und von vorgestern sind. Leider ist das Gegenteil wahr. 2008 glaubten wir das ganze Ausmass des globalen Finanzkapitalismus vor Augen zu haben. Doch warum muss immer noch mehr Dreistigkeit und Hohn dazu kommen? Heute heisst das Stichwort nicht mehr Lehman Brothers, sondern Mossack Fonseca. Die Konstante bleibt: Zürich und Genf sind mit dabei. Auch UBS und CS finden sich wieder. Und auch diesmal mit dabei: die globale Elite der Steuerhinterzieher und Geldwäscher.
Aus den grossen Fehlern der Nullerjahre wurde nichts gelernt.
Was wurde damals lamentiert über die moralischen Zustände. Es wurden zahlreiche Reformen geprüft und teilweise auch umgesetzt. Die neuesten Enthüllungen belegen jetzt aber eindeutig: Geändert hat sich im Kern nichts. Briefkastenfirmen und schamlose Steuerdelikte sind weltweit nach wie vor an der Tagesordnung. Steuern zu bezahlen scheint für den globalisierten Geldadel eine Wohltätigkeit zu sein, die man tun oder lassen kann.
Diese Haltung wiederspricht so fundamental unserer Forderung nach Solidarität, Ausgleich und staatlichem Schutz für alle. Und ihre Steuern fehlen so sehr für die dringend notwendige Bekämpfung von Hunger, Armut und Elend, die Sanierung von Schulgebäuden, den ökologischen Umbau der Wirtschaft.
Doch nicht nur die Entsolidarisierung der Vermögen spitzt sich zu. Auch die Entsolidarisierung zwischen den Menschen wird uns durch brennende Flüchtlingsunterkünfte immer wieder und viel zu oft vor Augen geführt. Menschen, welche vor Bomben, Vergewaltigung und Folter fliehen, werden hier mit Brandanschlägen begrüsst.
Wir finden Entsolidarisierung aber auch im Zusammenhang mit unseren Sozialsystemen. Die AHV-Plus-Initiative gibt da den nötigen Gegendruck zum Rechtsrutsch bei den letzten Parlamentswahlen.
Wir sehen es auch im Kleinen auf lokaler Ebene: Wollen wir mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen, fragen sich die betroffenen Anlieger vor allem, ob ihre Aussicht getrübt ist oder ein Schattenwurf entsteht. Wenn wir am 5. Juni zum zweiten Mal über ein neues Wohnquartier auf dem Viererfeld abstimmen werden, wird es vielen Gegnerinnen und Gegnern wiederum um die Frage gehen, ob für sie selber nicht einfach alles so bleiben könnte, wie es heute ist. Zwar entsteht durch die Überbauung ein neuer Stadtpark für alle, ökologischer Wohnraum der bestens durch ÖV erschlossen ist und dank seiner Zentrumsnähe auch gut zu Fuss oder mit dem Velo erreicht werden kann. Aber all das wird für viele genauso wenig zählen, wie die geplante Stadtverdichtung, die neuen Steuerzahlenden oder die Tatsache, dass Menschen in Bern wohnen können, die bisher keine Wohnung fanden.
Wir kennen solche Entsolidarisierungstendenzen also durchaus auch in der Stadt. Allerdings: Hier sind sie zum Glück seltener und auf punktuelle Einzelprojekte bezogen. Im Gegenteil: die Städte sind die Bollwerke gegen die zunehmenden rechts-nationalen Abschottungstendenzen auf nationaler Ebene. Ihre Rolle wird immer wichtiger: Wer, wenn nicht die Städte sorgen dafür, dass die Schweiz nicht völlig abgleitet in eine Art Alpen-Monaco, das sich immer nur der Anliegen der Reichen und Superreichen annimmt, Privilegierte unterstützt, Steuerflüchtlinge und Steueroptimierer hätschelt? Die Städte bieten dem nationalen Backlash die Stirn.
Beispiel Bern:
- 9. Februar 2014: Masseneinwanderungs-Initiative: Bund 50.3% Ja; Stadt Bern 72.3% Nein.
- 28. September 2014: Einheits-Krankenkasse: Bund 61.8% Nein; Stadt Bern 50.5% Ja
- 30. November 2014: Abschaffung Pauschalbesteuerung: Bund 59.2% Nein; Stadt Bern 57.8% Ja
- 14. Juni 2015: Erbschaftssteuer: Bund 71% Nein; Stadt Bern 51.6% Ja
- 28. Februar 2016: Spekulation Nahrungsmittel: Bund 59.9% Nein; Stadt Bern 53.7% Ja
Wir sind die linkste Stadt der Schweiz und wollen es auch bleiben.
Darum freue ich mich besonders, mit Euch allen den 1. Mai hier auf dem städtischen Bundesplatz zu feiern. Was gibt’s? Risotto, Bratwurst und Rivella! Das hier ist keine Tea-Party in einer Steueroase. Das ist unser Land, in dem hart gearbeitet und mit einem guten Gefühl gefeiert wird.
Das ist die Realität – zum Glück, denn Oasen entpuppen sich ja, wenn man ein bisschen genauer hinsieht, häufig als Fata Morganas.
Ich danke Euch allen für Euren Einsatz für Gerechtigkeit und Solidarität.