Interview Pia Wildberger
Am 1. Juli tritt das neue Sexualstrafrecht in Kraft: Nein heisst dann Nein. Ist es ein grosser Wurf?
Es ist ein Meilenstein. Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung sind neu ohne Nötigung und geschlechtsneutral definiert. Nein-heisst-Nein ist nicht die Maximalvariante, die wir uns erhofft hatten. Es freut uns aber sehr, dass die Täterarbeit verankert werden konnte. Verurteilte Täter können zu Lernprogrammen verpflichtet werden, auch schon bei sexueller Belästigung. Leider handelt es sich bloss um eine Kann-Regel. Aber wir bleiben dran. Ich glaube immer noch, dass wir dereinst die Ja-heisst- Ja-Lösung haben werden.
Ist Ja-heisst-Ja wirklich besser?
Schlussendlich widerspiegelt das Gesetz die Haltung der Gesellschaft. Bei der Nein-heisst-Nein-Lösung geht man davon aus, dass Sexualität ein Gut ist, das zur Verfügung steht und das man sich nehmen kann, sofern die andere Person nicht Nein sagt. Das darf doch nicht sein. Sexualität muss auf Selbstbestimmung und Einvernehmlichkeit basieren.
Wir leben in einer «Rape Culture», schreibst du in deinem neuen Buch. Was heisst das?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der patriarchale Haltungen, problematische Männlichkeitsvorstellungen und Geschlechterstereotype zu tief verankerten sexistischen, frauenfeindlichen Haltungen führen. Das schafft viele höchst problematische Bilder, zum Beispiel von Liebesbeziehungen. Etwa, dass der Mann die Frau erobern soll. Zu Ende gedacht bedeutet das beispielsweise, dass die Frau dem Mann gehört und er sie kontrollieren kann, notfalls mit Gewalt. Auch das Bild vom starken, rationalen Mann und der schutzbedürftigen, irrationalen Frau ist weit verbreitet und wird uns als romantisch verkauft. Dies alles führt dazu, dass sexualisierte Gewalt zuweilen nicht als Gewalt, sondern als normales männliches Verhalten angeschaut wird. Übergriffige Männer werden entschuldigt, während die betroffenen Personen beschuldigt werden.
Wie soll man reagieren, wenn einem ein sexueller Übergriff anvertraut wird?
Man sollte empathisch zuhören. Und man sollte dieser Person unbedingt glauben. Man sollte der Person auch helfen, das Erlebte einzuordnen. Also nicht verharmlosen, sondern bestätigen, dass das Verhalten der anderen Person nicht okay war. Wichtig ist auch, die Verantwortung der übergriffigen Person zu übertragen. Denn egal, welche Kleider die betroffene Person trug, ob sie naiv oder betrunken war – die Verantwortung trägt immer und ausschliesslich die Person, die die Grenzen überschritten hat. Die Opferhilfe kann mit Betroffenen erörtern, welcher Weg der passendste ist. Es ist gut möglich, dass die Anzeige bei der Polizei der falsche Weg ist.
Sexuelle Gewalt betrifft alle. Im Publikum an deinen Vorträgen sitzen fast nur Frauen und es reden auch fast nur Frauen über sexualisierte Gewalt. Wie lässt sich das ändern?
Ich hoffe, dass ich auch mit dem Buch einen Beitrag zur Veränderung leisten kann. Sexualisierte Gewalt wird immer noch als Frauenthema und damit als weniger relevant betrachtet. Dabei wird sexualisierte Gewalt grossmehrheitlich von Cis-Männern ausgeübt. Es ist ein Männerproblem, das die Männer lösen müssen.
Viele Männer sagen: «Ich doch nicht!»
Jeder Mann ist Teil der Rape Culture: entweder weil er selbst schon sexuell übergriffig war oder weil er zu- oder weggeschaut hat, als seine Kumpel es waren. Rape Culture lebt von komplizenhaften Männerbünden, die einander nicht zur Rechenschaft ziehen. Viele Männer, die sich angegriffen fühlen, sorgen sich mehr um die Privilegien, die sie verlieren könnten, wenn die Frauen die Deutungshoheit über sexualisierte Gewalt übernehmen, als um das Wohl der Millionen von Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren.
Was müssen Männer denn tun?
Informiert euch! Interveniert, wenn sexistische und abwertende Sprüche fallen, wenn Vergewaltigungsmythen bedient oder Frauen sexuell bedrängt werden. Für Männer ist es viel einfacher, gegen ihre Kollegen aufzustehen, als für uns Betroffene, die immer riskieren, erneut abgewertet und gedemütigt zu werden. Männer haben Vorschuss-Sympathien für Männer, einfach weil sie Männer sind. Männer orientieren sich an Männern. Diese männlichen Monokulturen machen die «Rape Culture» aus.
Die Männer allein werden es nicht richten können.
Wir alle müssen unseren Teil beitragen, um der mächtigen «Rape Culture» entgegenzuwirken. Eltern, aber auch Pädagog:innen und überhaupt die Gesellschaft stehen in der Pflicht, dass wir diese Geschlechterstereotypen und problematischen Vorstellungen zu sexualisierter Gewalt nicht weitergeben. Stattdessen müssen wir Kinder und Jugendliche eine Konsens-Kultur lehren.
Zur Person
SP-Mitglied Agota Lavoyer ist Expertin für sexualisierte Gewalt und setzt sich für eine bessere Unterstützung von Opfern sexualisierter Gewalt und für die Prävention ein. Soeben ist ihr neustes Buch «Jede_Frau» erschienen, das es bereits auf die Bestsellerliste des Schweizer Buchhandels geschafft hat.
Was ist neu?
Die Gesetzesreform bringt bedeutende Veränderungen mit sich: Handlungen können neu als Vergewaltigung oder sexuelle Übergriffe sowie sexuelle Nötigung gelten, wenn das Opfer durch Worte, Gesten oder das Zeigen von Ablehnung signalisiert, dass es nicht einverstanden ist und der Täter den ausgedrückten Willen des Opfers vorsätzlich missachtet. Zusätzlich wird auch der Schockzustand, das sogenannte Freezing, als Zeichen der Ablehnung berücksichtigt. Die Definition von Vergewaltigung wird erweitert, indem der Tatbestand geschlechtsneutral formuliert wird und neu alle Geschlechter umfasst. Er schliesst nicht nur den Beischlaf, sondern alle Handlungen ein, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind. Weiter macht sich strafbar, wer – auch bei einvernehmlichen sexuellen Handlungen – ohne vorgängige Zustimmung das Kondom entfernt («Stealthing») oder keines benutzt. Ebenso wird die Verbreitung sexueller Inhalte ohne Zustimmung der abgebildeten Person unter Strafe gestellt («Revenge Porn»).