Ansprache von Nationalrätin Flavia Wasserfallen anlässlich der Bundesfeier 2022 in Krauchthal

Referat von Flavia Wasserfallen, Nationalrätin

An die Bundesfeier in Chrouchtu? Also ich? Ja, aber ich bin ja gar keine Bundesrätin? Das habe ich mir gedacht, als ich die Anfrage erhalten habe. Aber die Einladung schien seriös und ich sagte gerne zu.

Als ich vor ein paar Wochen Bundespräsident Ignazio Cassis im Bundeshaus getroffen habe, also quasi meinen Vorgänger als Festrednerin hier, habe ich ihm stolz verkündet: «Ignazio ich darf in Krauchthal an der Bundesfeier reden !». «Ah veramente? Si, si ich war 2019 in Chrouchtu. Mi ricordo bene. Ich habe eine Höhlenhaus mit eine Höhlenfamilie besucht, und auch die Bundesfeier, das war alles sehr eindrucklich.»

Und so haben wir etwas weiter geplaudert, als plötzlich alt Bundesrat Christoph Blocher dazustiess – er ist ja ab und zu auch in Bundesbern anzutreffen. «Wa? Wa wottsch denn du in Chräuchtahl? I ha a minnere Red 2014 scho alles gsäit, was es zsäge git. Vor 500 Fräue und Manne!»

«Ja, Christoph. Vilech chöme nid so viu wie denn bi dir, aber d’SP isch haut iz dranne gsi mit ilade», habe ich entgegnet. «Jä so, dänn vil Glück».

Dann kam noch Bundesrätin Viola Amherd zu unserem Kaffeechränzchen dazu. «Ja um was geits? Dü darfsch nach Chröuchtu an die Bundesfiir? Dü Glüicklichi. Chasch ne üsrichtu schi selle doch ä CVP-Sektion gründa, ich würdi öi gäre mal aus Redneri iglade wärdu.»

Ja und so sind unsere Diskussionen weitergegangen und das ist jetzt auch nicht weiter wichtig, und trotzdem bin ich schon mitten im Thema, das ich heute mit ihnen teilen möchte: Vielfältiges Miteinander als Stärke der Schweiz.

Wenn ich jeweils im Ausland versuche das politische System der Schweiz zu erklären, reagieren meine Gegenüber mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Bewunderung: dass zum Beispiel der Bundesrat, also die Regierung, aus den vier grössten Parteien zusammengesetzt ist und sich bei der Wahl unserer Bundesrätinnen und Bundesräte durch das Parlament nicht einfach eine Mehrheit durchsetzt. Sondern die gemeinsame Überzeugung besteht – ein Konsens –, dass alle wichtigen Kräfte in die Landesregierung eingebunden werden sollen. Das ist einmalig auf dieser Welt. Und wie es der grosse SP-Politiker Helmut Hubacher, der vor 96 Jahren hier in Krauchthal geboren ist, formuliert hat:

«Ich bin gerne Schweizer und liebe mein Land. Es lässt mir die Freiheit, mich für eine andere Schweiz politisch zu engagieren. In der direkten Demokratie gilt auch die andere Meinung. Hat auch der Andersdenkende seine Chance. Keine Partei hat die Mehrheit, keine kann alleine regieren. Für eine mehrheitsfähige Lösung braucht es den Kompromiss.»

Was Helmut Hubacher beschrieben hat, das Zusammenarbeiten verschiedener Kräfte, ist entscheidend, ob es zu einem Kompromiss kommt, bei dem alle einen Teil ihrer Forderungen aufgeben müssen. Dieses Zusammenarbeiten verschiedener Kräfte war für mich entscheidend, damit wir einen guten, in der Bevölkerung breit akzeptierten Weg zur Meisterung der Covid-Pandemie gehen konnten. Auch wenn es Kritik gegeben hat, der Weg sei zu lasch oder der Weg sei zu streng, glaube ich, die Balance ist insgesamt gelungen. Es gibt noch viele weitere Beispiele dieser Konsensdemokratie, wie wir sie kennen. Nicht zuletzt, dass ich, eine SP-Frau aus der Stadt, heute an der Bundesfeier in Krauchthal als Rednerin eingeladen bin. In einer Gemeinde, die von einem SVP-Politiker präsidiert wird und der Konsens besteht, dass sich alle im Gemeinderat vertretenen Parteien im Turnus abwechseln und eine Festrednerin oder einen Festredner stellen dürfen. Eine Bundesfeier, die nur funktioniert, weil viele helfen und einen Beitrag leisten. Sei es organisatorisch, kulinarisch oder musikalisch. Als ich meinem Mann (heute auch da mit Kindern) erzählt habe, dass ich in Krauchthal auftreten darf, hat er mir erzählt, dass er sich erinnert, jeweils mit den Schnittabfällen in der Hub in die KEWU gefahren zu sein. Er hat während dem Studium bei einem Landschaftsgärtner aus Iffwil gearbeitet. Neugierig, was denn diese KEWU ist, habe ich mich etwas kundig gemacht und bin einmal mehr auf eine Schweizer Spezialität gestossen, die auch wieder dieses Miteinander verkörpert. Gemeinden spannen zusammen und organisieren sich zur gemeinsamen Abfallverbrennung, Grüngutverwertung, Strom aus Biogas, Dünger und Komposterde entsteht, Metall wird recycelt. Was so einfach klingt, war natürlich nicht einfach einzurichten. Viele Verhandlungen, Anpassungen des Projekts und Einsprachen haben die Entstehung der KEWU jahrelang blockiert. Doch genau vor 50 Jahren wurde sie eingeweiht, der Jodlerklub Hettiswil hat gesungen. Sie hat sich mit der Zeit gewandelt und trägt heute einen wichtigen Beitrag zur Einsparung von CO2 und zum schonenden Umgang mit Ressourcen bei.

Wenn alle etwas beitragen und im Austausch sind, trotz Unterschiede, entsteht Fruchtbares.

 

Als 1405 die praktisch nur aus Holz gebaute Altstadt fast vollständig niederbrannte, konnte sie u.a. auch dank dem Sandstein aus dem Krauchthal auf ein solideres Fundament gestellt und neu aufgebaut werden. Und sie steht noch heute. Und mit dem Münster, dem Bundeshaus oder dem Kornhaus konnten historisch bedeutende und wunderschöne Bauten entstehen. Ohne Krauchthal keine Berner Altstadt, ohne Altstadt keinen Sandsteinabbau im Krauchthal.

Nur dank einem solidarischen Miteinander funktioniert auch unsere Altersvorsorge. Nach dem 2. Weltkrieg 1945 haben ein FDP-Bundesrat und ein SP-Nationalrat die AHV aufgegleist. Im Herbst 1947 hat endete dann die Abstimmung mit einem riesigen Ja-Anteil und ein paar Monate später zahlte der Briefträger meinem Urgrossvater die erste AHV-Rente aus. Tausende Menschen wurden aus der Altersarmut befreit. Und noch heute sichert sie vielen Menschen ein Alter in Würde. Die Einführung der AHV ist nur gelungen, weil es eine überparteiliche Überzeugung gab, dass es eine Altersvorsorge für alle braucht und dass diese solidarisch finanziert werden soll. Die AHV ist einzigartig, wegen ihrem Finanzierungsmodus. Sie funktioniert nach dem Grundsatz unbegrenzte Beitragspflicht bei begrenzter Rente. Die AHV funktioniert solidarisch zwischen hohen Einkommen mit bescheidenen Einkommen und solidarisch zwischen der arbeitenden Bevölkerung und den Pensionierten.

Weil sie über Lohnprozente finanziert ist bezahlen Menschen mit Millioneneinkommen logischerweise mehr ein, als Menschen mit tiefen Einkommen. Und wenn Löhne steigen, fliesst mehr Geld in die AHV-Kasse. Und diese Solidarität zwischen hohen und tiefen Einkommen führt dazu, sehr beeindruckend, dass 92% aller Arbeitnehmenden ihr Leben lang weniger auf in die AHV einzahlen, als sie später als Rente beziehen. Die AHV ist die preisgünstigste Versicherung. Kein Aktionär kassiert eine Dividende, die AHV arbeitet nicht gewinnorientiert.

Trotzdem haben wir ein Problem mit der Höhe der Renten. Die AHV sollte die Existenz sichern, so steht es in der Bundesverfassung. Aber 1800 CHF, das ist die mittlere AHV-Rente, das reicht nicht. Deshalb müssen immer mehr Menschen Ergänzungsleistungen beziehen im Alter, um ihre Existenz sichern zu können, Tendenz steigend. Die AHV-Rente ist zu tief und muss gestärkt werden, und sie braucht eine Zusatzfinanzierung. Zusammen mit der SVP haben wir im Nationalrat vorgeschlagen, Gelder der Schweizerischen Nationalbank in die AHV zu lenken. Der Ständerat hat das leider gekippt, deshalb wurde im Mai eine Volksinitiative lanciert mit dieser Forderung. Andere möchten die AHV sichern, indem länger gearbeitet werden und mit der Erhöhung der MWSt der Konsum stärker besteuert werden soll. Das ist der Inhalt der AHV21, wie sie im Herbst zur Abstimmung kommt. Das ist für mich nicht der Königsweg, weshalb ich die AVH-Reform am 25. September ablehnen werde. Wir können das besser, wenn wir zusammenstehen und uns zu einer starken und existenzsichernden AHV bekennen.

Ich glaube wir stehen an einem ähnlich entscheidenden Punkt wie nach Kriegsende vor fast 80 Jahren bei der Einführung der AHV. Wir haben eine grosse politische Herausforderung zu meistern, die wir nur miteinander schaffen. Aktuell werden wir als Land stark gefordert. Das Kriegsgeschehen in der Ukraine macht uns betroffen. Aus Betroffenheit ist Solidarität in der breiten Bevölkerung entstanden. Und dieser Krieg führt uns auch vor Augen, wie abhängig unsere Energieversorgung von Staaten ist, die unser Wertesystem mit Füssen treten. Dieser Krieg zeigt uns, wie abhängig wir von Erdöl und Erdgas aus dem Ausland sind. Dabei ist nicht nur die Abhängigkeit problematisch, sondern dass fossile Energien unserem Planeten bereits schaden und unseren kommenden Generationen viel Leid und Probleme bereiten. Nehmen wir also diese Krise zum Anlass unsere Energieversorgung unabhängiger vom Ausland zu machen, heimische erneuerbare Energien und Arbeitsplätze zu fördern. Dafür braucht es ein Milliardeninvestitionsprogramm. Das tönt vielleicht illusorisch oder zu hoch gegriffen. Aber ich möchte an dieser Stelle an frühere Grossprojekte erinnern. Mit Milliardeninvestitionen wurden vor vielen Jahrzenten die Grosswasserkraft gebaut und das Eisenbahnnetz erstellt. Beide4s Infrastrukturen, von denen wir noch heute, Jahrzehnte später profitieren. 

Wie gelingt uns jetzt der Ausstieg aus den fossilen Energien? Auch hier müssen wir den Kompromiss suchen und politische Differenzen überwinden – die Energiewende weiterführen und gestalten. Alle müssen aufeinander zugehen. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass es bei jeder Erhöhung einer Staumauer ein «Gchär» und Blockaden gibt. Auch beim Denkmalschutz und Landschaftsschutz braucht es Kompromissbereitschaft, damit wir die Energie der Sonne, des Windes und des Wassers optimal nutzen können. Auf der anderen Seite müssen auch Kräfte einen Schritt machen, die kritisch sind gegenüber Grossinvestitionen vom Staat. Wir können die Energiewende nicht jedem Einzelnen oder der Wirtschaft überlassen. Ich bin sicher, wir haben eine gemeinsame Überzeugung, dass wir unserer Landschaft Sorge tragen müssen. Dass wir die Hebel, wie wir Energie erzeugen und konsumieren jetzt umstellen müssen.

Liebe Krauchthalerinnen, liebe Krauchthaler

Ich habe heute beim interessanten Besuch eures Museums gelernt, dass es für einen gelungenen Sandstein-Abbau mutige Arbeiter und «Rächti» und «Linggi» gebraucht hat. Schroter mit linker oder rechter Schlaghand. Ich bin überzeugt, dass wir auch in der Politik einen guten Ausgleich von Kräften, Meinungen und Ideen brauchen, damit wir ein friedliches, zukunftsfähiges und fruchtbares Miteinander sichern können. Und wir brauchen Mut und Weitsicht, damit wir die grossen Herausforderungen dieser Zeit, wie eine starke Altersvorsorge oder der Ausstieg aus den fossilen Energien, meistern können. Das sind wir unseren kommenden Generationen schuldig. Deshalb wünsche ich uns allen zum Geburtstag unseres Landes ein friedliches Miteinander, Mut und Weitsicht.

Ich danke ihnen, dass sie mir zugehört mir haben. Ich danke für die Einladung. Allen Beteiligten gratuliere ich zu diesem schönen Anlass und ich wünsche allen noch eine schöne Bundesfeier!

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