Auch in der Schweiz begegnet man dem Irrglauben, wonach die Ukraine ihren Verteidigungskampf einstellen sollte, um das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung zu beenden. Gewissermassen eine Kapitulation aus humanitären Gründen. Da Präsident Selenskyj keine Einsicht zeige, müsste sich Europa halt von Kyiv abwenden und keine Waffen mehr liefern. Dies würde gewissermassen automatisch zum Ende der Gewalt führen.
Diese Haltung ist zynisch. Sie blendet schlicht aus, dass Putin der Aggressor ist und die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung hat. Und sie unterliegt auch einem fatalen Grundlagenirrtum, weil sie davon ausgeht, dass ein Erfolg Russlands zum Ende der Gewalt führen würde. Dabei sprechen die bisherigen Erfahrungen in diesem Angriffskrieg eine andere Sprache. Das unfassbare Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung würde durch einen (Teil-)Sieg Putins nicht kleiner werden. Im Gegenteil. Nicht nur die völkerrechtswidrigen Bombardements ziviler Infrastruktur sind eine Tatsache. Auch die Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten sind unerträgliche Realität: die Massenmorde, die Folterkammern, die systematischen Vergewaltigungen und die Deportationen von tausenden Kindern. Eine ukrainische Niederlage wäre folglich nur ein Freipass für weitere Gräueltaten. Humanität und ein Erfolg Putins schliessen sich darum aus.
Wir dürfen nicht vergessen, dass Putin einen imperialistischen und kolonialen Plan verfolgt, den er von Anfang an recht offen deklarierte. Ziel seiner Invasion war und ist es, die Ukraine zu besetzen, die demokratisch gewählte Regierung zu beseitigen und ihm ergebene Marionetten einzusetzen. Die Ukraine gehöre in die «Einflusssphäre» Russlands. Letztlich will Putin die ukrainische Nation und ihre junge Demokratie vernichten. Denn in seiner verqueren Weltsicht existiert gar kein ukrainisches Volk, weshalb er sich berechtigt fühlt, alles mit diesen Menschen zu machen. Ohne mit der Wimper zu zucken, geht er darum über zehntausende von Leichen.
Der Krieg in der Ukraine begann schon 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und den Kämpfen im Donbass. Die Strategie Europas war damals, den Konflikt einzufrieren, zu verhandeln und einen Ausgleich mit Putin zu finden. Diese Strategie ist mit der Invasion vor einem Jahr krachend gescheitert. Europa hat dies zum Glück erkannt und unterstützt nun zusammen mit den USA und weiteren Verbündeten die Ukraine und ihre Bevölkerung. Mit humanitärer Hilfe, einer grosszügigen Aufnahme der Flüchtenden, Wirtschaftssanktionen gegen Russland, direkten Finanzhilfen für die Ukraine und vielen Waffen für ihre Armee. Damit verteidigt Europa nichts weniger als die Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren. Und damit auch die eigene Freiheit. Nur wenn sich aufgrund einer starken Ukraine Putins Kosten-Nutzen-Kalkül verändert, kann es zielführende Verhandlungen geben. Nur dann wird er zu Kompromissen bereit sein, die aus menschlicher und politischer Sicht akzeptabel sind.
Auch die neutrale Schweiz steht rechtlich, politisch und moralisch in der Pflicht, die Ukraine zu unterstützen. Wir müssen weiter solidarisch sein mit den Geflüchteten. Wir müssen das System Putin schwächen, indem wir die Sanktionen konsequent umsetzen. Wir sollten inländische Kriegsgewinnler wie die Rohstoffhändler in die Verantwortung nehmen und ihre Übergewinne zugunsten der Ukraine besteuern. Und wir sollten endlich unser Geldwäschereigesetz verschärfen.
Wir müssen dem ukrainischen Volk beistehen, indem wir deutlich mehr humanitäre und finanzielle Hilfe leisten. Zum Beispiel könnten wir eine gross angelegte, internationale Entminungsaktion lancieren. Und wir müssen unsere Neutralität richtig auslegen, damit sie dem Völkerrecht dient und nicht den Aggressor schont. Darum ist auch die Wiederausfuhr von bereits verkauften Schweizer Waffen an die Ukraine durch unsere Nachbarstaaten zu erlauben.
In der Zeitenwende braucht die Schweiz ein neues Selbstverständnis als engagierte Anwältin des Völkerrechts und der Menschenrechte. Darum muss sie auf der Seite der Ukraine stehen. Für Menschlichkeit und Demokratie. Für eine mutige Schweiz in einem freien Europa.
Dieser Text ist am 27. Februar 2023 als Gastbeitrag von Jon Pult im «Bündner Tagblatt» erschienen.