Es freut und ehrt mich sehr, lieber Sigmar, sehr geehrte Gäste, dass die SPD und die SP Schweiz heute gemeinsam einer herausragenden Persönlichkeit gedenken können. Diese Zusammenkunft heute in Zürich ist kein Zufall – vielmehr ist August Bebel, der Kaiser der Arbeiter, Sinnbild für unsere gemeinsamen Wurzeln, unsere Gründungsgeschichte, unsere Werte, die uns vor über hundert Jahren und bis heute verbinden. Und so macht es mich natürlich auch stolz, dass wir in diesem Jahr, und das ist jetzt eher ein Zufall, beide ein grosses Jubiläum feiern können. 150 Jahre SPD, 125 Jahre SP Schweiz. Es hat darum etwas Symbolisches, dass die Gedenkfeier für Bebel zwischen zwei grossen Gedenkfeiern des Jahres 2013 stattfindet und diese gewissermassen miteinander verbindet: Zum einen die gewaltige Feier zur Gründung der SPD vor 150 Jahren, die ich im Mai in Leipzig besuchen durfte und die ich als eindrücklich und berührend in Erinnerung behalten werde. Zum anderen das grosse Fest mit viel Musik, Politik, Speis und Trank, das wir zum 125. Geburtstag der SP Schweiz am 7. September – also bereits in gut drei Wochen! – mit über 2200 bislang angemeldeten Freundinnen und Freunden der Sozialdemokratie in Bern feiern werden.
Ein Jubiläum ist auch immer die Gelegenheit zurückzublicken auf unsere bewegte Geschichte. Und in diese Geschichte gehört das Wirken von August Bebel.
August Bebel, der grosse deutsche Arbeiterführer, starb vor hundert Jahren in der Schweiz. Über 50 000 Personen sollen an seinem Sarg vorbeigezogen sein, der während zweieinhalb Tagen im Volkshaus Zürich – also hier in diesem Gebäude – aufgebahrt war. Wie die Zürcher Arbeiterzeitung Volksrecht damals berichtete, war „das Gedränge vor dem Volkshaus fast unheimlich. … Der allgemeine Eindruck ist der, dass hier einer gestorben ist, der – vielleicht wie noch nie ein deutscher Mann – neben der Achtung und Bewunderung auch die LIEBE seines Volkes gefunden hat.“
August Bebel und die anderen zentralen Figuren aus den Anfangsjahren der SPD dienten im 19. Jahrhundert als Vorbilder für die Gründung der SP Schweiz. Sie demonstrierten den Schweizer Genossen um Albert Steck, dass eine Politisierung der Arbeiterbewegung möglich ist und erfolgreich sein kann.
Im Jahr 1888, dem Gründungsjahr der SP Schweiz, legte die vielleicht berühmteste Rede von August Bebel im deutschen Reichstag, aber auch den Widerstand der Konservativen gegen die sich formierende Sozialdemokratie offen. Bebel enthüllte in seiner Rede das Unwesen der zahlreichen preussischen Spitzel und „Agents Provocateurs“. Agenten, die damals im Solde Bismarcks in der Schweiz zwecks Diskreditierung der Sozialdemokratie zu Gewalt und revolutionärem Umsturz aufriefen.
Tatsächlich rief Bebels Rede in der zuvor liberal gesinnten Schweiz ein grosses Echo hervor. Nur wandten sich die öffentliche Meinung und vor allem der bürgerliche Staat schon bald gegen die Arbeiterbewegung und ihre Repräsentanten. Die allgemeine Empörung gegen das Spitzelwesen wurde zum Anlass genommen, eine politische Polizei zu installieren. Und auf die polizeiliche, folgte schon bald eine ideologische und militärische Aufrüstung, die ihren Hauptgegner in der sich formierenden Sozialdemokratie und in der Arbeiterbewegung fand.
Bebels Rede steht also am Anfang jener Epochenwende, an welcher der bisherige öffnungs-orientierte, europäisch breit vernetzte Linksliberalismus der Schweiz auch hierzulande zugunsten eines reaktionären Nationalismus an Einfluss verlor. Das war das Umfeld der entstehenden Schweizer Sozialdemokratie, die in vielerlei Hinsicht das Erbe des an Terrain verlierenden Linksliberalismus antrat, wobei sich die SP selbstverständlich mit diesem liberalen Erbe immer wieder höchst kritisch auseinandersetzte.
Damit sind wir bei einem ebenso zentralen wie faszinierenden Punkt von Bebels Erbe angelangt: Die Vereinigung und Integration verschiedener Strömungen in einer Partei.
Auch August Bebel gehörte in seinen Jugendjahren nämlich zunächst der liberalen Bewegung an, weil für ihn aufgrund eigener Erfahrungen Bildungsanstrengungen Priorität vor allem anderen hatten. Bebel, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte und mit vier seinen Vater, mit sechs seinen Stiefvater und mit dreizehn seine Mutter verlor, hatte in seinem Leben selbst erfahren, was Bildung ausmachte. In grosser Dankbarkeit erinnerte er sich bis an sein Lebensende an das Waisengeld, das ihm ermöglicht hatte, eine Drechsler-Lehre zu besuchen. Allein dank intensiver Weiterbildung konnte er sich eine eigene Drechslerwerkstatt aufbauen, die ihm schliesslich die nötige ökonomische Unabhängigkeit zur politischen Arbeit verschaffte.
Umso mehr setzte sich Bebel zeitlebens – ganz im Sinne des Liberalismus – für möglichst umfassende Bildungsanstrengungen aller ein. Allerdings erkannte auch Bebel bald, dass Bildung allein die soziale und demokratische Frage nicht lösen konnte. Das war der Moment, in dem er sich dem Sozialismus und Marxismus zuwandte.
Diese Hinwendung zum Sozialismus erfolgte bei Bebel und mit ihm in weiten Teilen der organisierten deutschen Arbeiterbewegung deutlich früher als in der Schweiz. Bekanntlich gab sich die SP Schweiz erst 1904 ein marxistisch geprägtes Parteiprogramm. Mit dem 1901 in die SP aufgenommenen Grütliverein besass die SP aber auch ein starkes Standbein im sozial gesinnten Linksliberalismus. Für Bebel blieb diese Verbindung zeitlebens wichtig. Er selbst war alles andere als ein theoretischer Ideologe, obschon er als Hüter des marxistischen Zentrums in der SPD gilt. So gründete Bebel ausgerechnet im gleichen Jahr 1866, als er der Ersten Internationale von Karl Marx beitrat, die radikaldemokratische Sächsische Volkspartei, die kaum etwas mit Sozialismus zu tun hatte. Es ist darum kein Zufall, dass es Bebel war, der 1901 beim Zusammenschluss der Grütlianer mit der SP in Solothurn die Festrede hielt und diese „Solothurner Hochzeit“ als „epochemachend“ wärmstens begrüsste.
Bebel blieb insofern auch als bekennender Marxist im ständigen Dialog mit den liberalen Demokraten. Seine grosse Fähigkeit war es, die Diskussion über abweichende Meinungen auch innerhalb der Sozialdemokratie zuzulassen, ohne seine tiefe Verankerung in den Grundwerten aufzugeben oder sonst wie faule Kompromisse einzugehen. Diese integrative Fähigkeit fasziniert mich an August Bebel. Diese Fähigkeit war für viele in der SP Schweiz ein grosses Vorbild, darunter nicht zuletzt für Robert Grimm, der einen ähnlichen ideologischen Spagat pflegte.
Ein bleibendes Vermächtnis von August Bebel ist ausserdem seine Schrift „Die Frau und der Sozialismus“. Das visionäre Buch war schon zu damaliger Zeit ein Grosserfolg, nicht weniger als 52 Auflagen wurden gedruckt. Eine kleine Anekdote am Rande: Bebel nutzte das Honorar unter anderem dazu, sich 1897 eine Villa in Küsnacht am Zürichsee zu erwerben. Als Bebels Villenbesitz allerdings allzu hohe politische Wellen schlug, stiess er die Villa in Küsnacht kurze Zeit später wieder ab.
Der Grosserfolg von „Die Frau und der Sozialismus“ zementierte Bebels Ansehen in der Bevölkerung, die ihm fortan den Übernamen „Arbeiterkaiser“ verlieh. Das Buch verdeutlicht zudem Bebels scharfen Blick auf die realen Zustände jenseits der Ideologie, heute würde man wohl von „Pragmatismus“ sprechen. Zeit seines Lebens ging es Bebel nicht allein um die Emanzipation der lohnabhängigen Arbeiterklasse im marxistischen Sinn. Vielmehr setzte sich Bebel stets gleichzeitig für die Emanzipation der kleinen Handwerker, der Kleinbauern, der Volksschullehrer und kleinen Beamten ein. Und eben – was in der Schweiz, die bis 1971 kein Frauenstimmrecht kannte, besonders bemerkenswert ist – für die Emanzipation der Frau und ihre politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung.
Wie wir gesehen haben, war Bebel ein Visionär, aber einer mit stetem Blick auf das politisch Mögliche. Insofern hielt Bebel auch als „Kaiser der Arbeiter“ stets an den Grundwerten der liberalen Demokratie fest. Zwar war für ihn zentral, dass sich die Gesellschaft nicht allein über den Parlamentarismus verändern liess. Dennoch sah er im Reichstag weit mehr als eine blosse Bühne der sozialistischen Propaganda, sondern stets auch ein Instrument zur konkreten Verbesserung der Lage der Arbeiter. Wenn er auch die Bismarckschen Sozialgesetze grundsätzlich kritisierte, setzte er sich gleichzeitig für ein Verbot der Sonntags- und Nachtarbeit, für Arbeitsschutz für Frauen und Lehrlinge und ähnliche Reformen ein. Überhaupt waren seine Positionen stets weniger durch Theorie als durch konkrete Erfahrungen der praktischen politischen Arbeit bestimmt.
Dank dieser Politik prägten die Sozialdemokarten über die Jahrzehnte ihre Länder nachhaltig: in der Schweiz, in Deutschland und weltweit. Sozialdemokraten wie August Bebel oder Robert Grimm haben den bürgerlichen Staat die Stirn geboten und Zugeständnisse abgerungen.
Exemplarisch dafür steht das Jahr 1918, nur fünf Jahre nach Bebels Tod. Für die Schweizer Sozialdemokraten jener Zeit stellte der gescheiterte Generalstreik zwar eine Niederlage dar. Lange Zeit blieb die Verbitterung über einen Streik, der abgebrochen werden musste, nachdem die Armee Zürich, Bern und weitere Zentren militärisch besetzt und drei streikende Arbeiter erschossen hatte. Heute jedoch nehmen wir den Generalstreik unzweifelhaft als einen Gründungsakt der modernen Schweiz wahr: Frauenstimmrecht, Einführung des Proporz, Schaffung einer AHV, Ausweitung der Sozialpartnerschaft – Grimm und seine Genossen vom Oltner Aktionskomitee, diese Widerstandskämpfer, Internationalisten und auch Revolutionäre haben mehr für die Schweiz gemacht als Generationen von selbsternannten Patrioten.
Gegen welche Widerstände die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für unsere Werte antreten mussten, beeindruckt mich immer wieder. Insgesamt rund fünf Jahre seines Lebens verbrachte August Bebel aufgrund seiner Gesinnung hinter Gittern. So wurde August Bebel 1877 zu neun Monaten Haft verurteilt, weil er in einer Broschüre die Höhe des Militärbudgets dem Budget der Volksschulerziehung gegenübergestellt hatte. Wenn wir heute Milliardenausgaben für neue Kampfjets kritisieren, müssen wir zum Glück kein Gefängnis mehr fürchten, wir werden höchstens als „heimatmüde“ und „vaterlandslose Genossen“ abgestempelt.
Dabei verdanken wir die demokratische und soziale Qualität unserer modernen Staaten stolzen Sozialdemokraten wie August Bebel. Dies ist unser Erbe, dies ist unsere Geschichte. Das gilt auch, wenn manche Bürgerliche behaupten, der Erfolg der Schweiz gründe auf einer von staatlichen Eingriffen befreiten Wirtschaft, auf einem blutarmen Arbeitsrecht und auf dem Steuerwettbewerb. Doch ich frage Sie: Wo stünde unser Land heute ohne die Linke, ohne die Sozialdemokratie? Die Sozialdemokraten haben die moderne Schweiz aufgebaut. Sie gaben die entscheidenden Anstösse, die Arbeitslosenversicherung zu schaffen, die AHV aufzubauen und die IV hervorzubringen. Und die SP hat in den letzten Jahren diese Errungenschaften erfolgreich verteidigt und wird sich auch in Zukunft gegen alle Abbau- und Privatisierungstendenzen wehren.
Die Sozialdemokratie hat auch das kostenlose, qualitativ hochstehende Bildungssystem stets unterstützt, das am wahren Ursprung des Schweizer Erfolgsmodells steht. Dank der dualen Berufsbildung und erstklassiger Hochschulen kennt die Schweiz keine massenhafte Jugendarbeitslosigkeit. Das gilt es zu bewahren und darum ist die SP auch weiterhin dafür besorgt, unseren Kindern Perspektiven zu bieten – ganz im Sinne des Arbeiterkaisers. Sie verteidigte und verteidigt unser bewährtes Bildungssystem mit gleichen Chancen für alle.
„Es liegen in jedem Menschen eine Reihe von Fähigkeiten und Trieben, die nur geweckt und entwickelt zu werden brauchen, um in Betätigung gesetzt, die schönsten Wirkungen zu erzeugen.“ hielt Bebel in seiner Schrift „Die Frau und der Sozialismus“ fest. Das war seine eigene, von einem tiefen Optimismus geprägte Lebenserfahrung. Sie bildete die Grundlage seines Glaubens an eine nahe bevorstehende bessere Zeit, ein Glaube, der sich anlässlich seiner fulminanten Reden und mittels zahlreicher Schriften auf breite Bevölkerungsschichten übertrug.
Bebel weckte Hoffnung auf eine andere, auf eine bessere Gesellschaftsordnung. Ein Ziel, das die Sozialdemokratie auch heute noch verfolgt. Im Unterschied zu Marx und Engels stellte sich Bebel diese aber nicht als Diktatur des Proletariats, sondern als eine „vernünftige demokratische Gesellschaft“ vor. An die Stelle des Privateigentums sollte die genossenschaftliche Produktionsweise treten. Ebenfalls eine Forderung, die noch heute modern ist, wie ein Blick ins neue Parteiprogramm der SP Schweiz beweist.
Manche erblicken in Bebels Gleichzeitigkeit von utopischer Zukunftshoffnung und pragmatischer politischer Arbeit einen Widerspruch. Ich sehe darin vielmehr eine Stärke der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie hält unbeirrt daran fest: Eine andere Ordnung ist möglich. Dennoch lassen wir uns nicht davon abhalten, auch im praktischen politischen Alltag unsere Arbeit zu tun. Nicht zuletzt diese Erkenntnis ist das grosse Vermächtnis von August Bebel, dessen 100. Todestags wir heute gedenken, an die Sozialdemokratie in der Schweiz, in Deutschland und weit darüber hinaus.