In den 1990er Jahren gab es einen Konsens unter den Parteien und im Bundesrat: Für den Finanzsektor sind die Stempelsteuern das Pendant zur fehlenden Mehrwertsteuer. Seither wurden die Stempelsteuern jedoch scheibchenweise gesenkt; der historische Kompromiss wird damit untergraben. «Während wir weiterhin auf jedes Paar Socken und jedes Gipfeli Mehrwertsteuer bezahlen, sollen Finanztransaktionen nicht mehr besteuert werden. Das ist inakzeptabel», sagt SP-Nationalrat und SP-Co-Präsident Cédric Wermuth.
Der Abbau der ersten Stempelsteuer-Tranche – der Emissionsabgabe auf Eigenkapital – geschieht ohne Not, denn nur 0,25 % aller Unternehmen in der Schweiz sind von der Zahlung dieser Abgabe betroffen. «Im Gegenzug wurden Mehrwertsteuer und Abgaben mehrfach erhöht», sagt SP-Nationalrätin und SP-Vizepräsidentin Jacqueline Badran. «Das ist volkswirtschaftlich schädlich, denn es schmälert die Kaufkraft der Menschen. 62 % unserer Wirtschaftsleistung kommt jedoch aus dem Konsum der privaten Haushalte.» Und die Pläne der Konzernlobby und der bürgerlichen Parteien gehen noch viel weiter: Würden sie umgesetzt, müsste die Mehrwertsteuer verdreifacht werden, um die Steuerausfälle zu kompensieren.
Während viele Wirtschaftsbereiche und ein Grossteil der Bevölkerung finanziell noch immer unter der Coronavirus-Krise leiden, ist der Finanzsektor sehr gut davongekommen und hat teilweise Rekordgewinne eingefahren. «In einem ausgewogenen Steuersystem leisten alle entsprechend ihrer Fähigkeiten einen Beitrag», sagt SP-Nationalrat und SP-Vizepräsident Samuel Bendahan. «Doch mit der Abschaffung der Stempelsteuer befreit sich der bereits schon privilegierte Finanzsektor von seiner Verantwortung und verlangt von anderen, für ihn zu zahlen.»
Wirtschaftlich unsinnig und steuerlich ungerecht
Die bürgerliche Mehrheit, die den Stempelsteuer-Bschiss beschlossen hat, verfolgt auf leisen Sohlen das Ziel, die Steuern für grosse Vermögen und Unternehmen immer weiter zu senken. «Das ist wirtschaftlich unsinnig und steuerlich ungerecht. Wir müssen die Prioritäten wieder zurechtrücken», sagt SGB-Präsident und SP-Nationalrat Pierre-Yves Maillard. «Die Herausforderung besteht darin, die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung zu stärken, und nicht darin, eine Steuer abzuschaffen, die nur den Finanzplatz sowie Vermögende und Gutverdienende in vertretbarer Weise belastet.»
Dem Staat immer mehr Finanzmittel zu entziehen, ist eine Strategie, die nur wenige begünstigt. «Die Bevölkerung als Ganzes hat nichts davon. Sie bezahlt die Ausfälle mit Leistungskürzungen oder höheren Steuern und Gebühren», sagt EVP-Nationalrätin und EVP-Präsidentin Lilian Studer. «Darum ist für die EVP klar: Weitere Entlastungen für einige wenige Grosskonzerne sind nicht angezeigt. Was wir brauchen, ist eine Entlastung des Mittelstands und eine verfassungsmässige Ehepaarbesteuerung.»
Letztlich würden mit der Abschaffung der Stempelabgabe auch die Investitionen für eine ambitionierte Klimapolitik gefährdet. «Lassen wir die Steuerabbau-Maschinerie laufen, so gefährden wir die Investitionsfähigkeit der Schweiz», sagt Franziska Ryser, Nationalrätin und Vizepräsidentin der GRÜNEN. «Der Umbau des Steuersystems gräbt dem Klimaschutz wortwörtlich das Wasser ab. Dabei wäre es auch für die Schweiz endlich an der Zeit, ein ernsthaftes Klimaschutzprogramm zu lancieren.»