Unser Steuersystem privilegiert die Reichen. Schuld daran sind nicht zuletzt falsch konzipierte Progressionskurven bei den Einkommenssteuern. Trotzdem ist dieses Thema in der Politik fast inexistent. Die SP Bern hat reagiert und im Kantonsrat verlangt, die Progression für die Mittelklasse zu senken und für die hohen Einkommen zu erhöhen. Ihr Ziel: mehr Steuergerechtigkeit. Zwar scheiterte sie damit. Doch ändert das nichts daran, dass die SP-Forderung mehr denn je berechtigt ist.
Von Walter Langenegger
In Sachen Steuerpolitik ist unsere Bundesverfassung gerecht. So schreibt sie vor, dass die Besteuerung grundsätzlich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgen muss. Salopp gesagt: Die Reichen haben die breiteren Schultern und sollen daher im Interesse des Gemeinwohls auch einen grösseren Teil der Steuerlast tragen.
Das ist auch der Grund, weshalb den meisten Einkommensteuern (die wichtigste Einnahmequelle von Bund und Kantonen) progressive Steuertarife zugrunde liegen. Progressiv meint hier, dass sich mit steigendem Einkommen auch der Steuersatz erhöht. Die Steuerkurve verläuft demnach im Idealfall zunächst flach und steigt dann immer steiler an, schont damit die niedrigeren und mittleren Einkommen und nimmt die Reichen stärker in die Pflicht.
Verzerrte Steuerkurve
Die Praxis allerdings weicht zum Teil beträchtlich von der Theorie ab, wie die Berner SP-Fraktion feststellen musste. So verläuft die Progressionskurve im Kanton Bern nicht erst flach und dann steil, sondern umgekehrt: Sie steigt am Anfang rasch an, flacht bei den hohen Einkommen ab und führt dazu, dass der Steuersatz für die Mittelschicht und für Multimillionäre praktisch gleich hoch ist.
In Franken und Rappen zahlen die Spitzenverdiener und Vermögenden zwar beträchtliche Summen, sodass immer noch eine gewisse soziale Umverteilung von oben nach unten stattfindet. Aber vom solidarischen Gedanken, wonach die Reichen viel stärker zur Finanzierung des Staates herangezogen werden sollten als alle anderen, ist nicht mehr viel übriggeblieben.
Dies widerspricht nicht nur der Bundesverfassung, sondern bestraft vor allem die Mittelklasse. Sie trägt heute wesentlich mehr zur Finanzierung des Haushalts bei, als ihr eigentlich zugedacht ist, während eine reiche Oberschicht privilegiert wird. Genau das wollte die SP Bern mit ihrer steuerneutralen Korrektur an der Progressionskurve ändern. Steuerneutral deshalb, weil es dabei nicht um Steuerabbau gehen sollte, sondern um eine Besserstellung der Normalverdienerinnen und Normalverdiener. Denn klar ist: Ihnen schaden Steuerreformen ohne Gegenfinanzierung, da sie am stärksten betroffen sind, wenn der Staat sparen muss.
Es zahlen die Falschen
Bern ist allerdings nicht der einzige Kanton mit einer unsozialen Steuerkurve. Im Gegenteil, der Konstruktionsfehler ist mehr oder minder fast überall derselbe, ob in Steuerparadiesen oder Steuerhöllen: die Mittelklasse zahlt, die Oberschicht profitiert. Anders verhält es sich nur bei der direkten Bundessteuer: Ihre Kurve entspricht noch am ehesten der Theorie, weshalb sie als «Reichensteuer» gilt – was auch der Sinn und Zweck der Sache ist.
Doch die Bundessteuer ist – wie gesagt – die Ausnahme. Dies ist umso stossender, als die Mittelklasse seit 30 Jahren sukzessive steuerpolitisch benachteiligt wird. Mit dem Versprechen, die Steuern für alle zu senken, setzte die bürgerliche Mehrheit in dieser Zeit immer neue Abzüge und Tarifreduktionen durch und senkte damit vor allem die Progression für die Reichen. Die breite Bevölkerung indes spürt kaum etwas davon, sondern ist vielmehr mit immer höheren Kopfsteuern wie Mehrwertsteuern, Krankenkassenprämien und Lenkungsabgaben konfrontiert.
Der neoliberale Umbau des Steuersystems weg von den progressiven Steuern hin zu den unsozialen regressiven Steuern ging damit einseitig zu Lasten der Mittelschicht und führte dazu, dass die Steuerprogression für die Reichen nicht nur viel zu niedrig, sondern real sogar gesunken und teils regressiv ist, wie die folgende Grafik der Universität Basel belegt:
Faktisch bedeutet dies laut dem Basler Steuerforscher Kurt Schmidheiny beispielsweise, dass ein Haushalt mit einem Einkommen von drei Millionen heute prozentual weniger Steuern als ein Haushalt mit einer halben Million Einkommen zahlt.
Zentrale Stellschraube
Vor diesem Hintergrund wird klar: Die Progression ist die zentrale Stellschraube, wenn es darum geht, eine steuerpolitische Umkehr mit dem Ziel zu lancieren, eine gerechtere Besteuerung zur Finanzierung der öffentlichen Hand sicherzustellen. Eine solche Umkehr ist längst fällig, nicht zuletzt auch mit Blick auf unsere grösste Herausforderung: die sozialverträgliche Bewältigung der Klimakrise. Wenn es nämlich gelänge, die kantonalen Progressionskurven getreu der Bundesverfassung zu reformieren, stünden uns dafür zusätzliche Milliarden zur Verfügung, ohne dass die breite Bevölkerung mit neuen Lenkungssteuern und Abgaben belastet werden müsste.
Darum wäre es wichtig, dieses in der Öffentlichkeit wenig beachtete, aber zentrale Thema nach dem ersten Anlauf in Bern auch in anderen Kantonen auf die politische Agenda zu setzen. Dies gilt umso mehr, als es kein Zufall ist, wenn dies bisher kaum geschehen ist. Die neoliberalen Steuer-Abbauer haben kein Interesse an einer breiten Debatte über die Progression. Eine solche könnte nämlich zu einer Meinungsänderung in der Bevölkerung führen, ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals herrschte breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass es absolut legitim ist, wenn die Reichen erheblich mehr Steuern zahlen als alle anderen.
Sozial gerecht
Die Argumente, die für eine Reform der Progression mit höheren Spitzensteuersätzen sprechen, sind damals wie heute die gleichen und haben nichts von ihrer Berechtigung eingebüsst. Dabei geht es erstens um die Steuergerechtigkeit. Tatsache ist, dass die hohen Einkommen am meisten vom «System Schweiz» profitieren. Sie verdanken ihren Erfolg und ihren Reichtum vor allem den hervorragenden Rahmenbedingungen, die wir alle täglich mit unserer Arbeit erschaffen und gewährleisten. Also ist es nur recht und billig, wenn die Reichen dafür einen anständigen Preis und nicht wie heute lediglich einen Dumpingpreis bezahlen.
Wirtschaftlich richtig
Zweitens geht es um die Wirtschaft. Es trifft nicht zu, dass niedrige Steuern für Wohlhabende und Spitzenverdiener positive Auswirkungen auf die Wirtschaft haben. Das ist ein ideologisches Dogma, das sich zwar politisch durchgesetzt hat, wissenschaftlich aber nie seriös belegt worden ist. Belegt ist einzig, dass es die Reichen noch reicher gemacht hat.
Kein Dogma hingegen ist, dass eine hohe Besteuerung der Reichen das Wirtschaftswachstum fördert. Viele renommierte Wirtschaftswissenschaftler vertreten diese Ansicht, darunter Paul Krugman. Der US-amerikanische Nobelpreisträger zeigte in einem Aufsatz 2019 in der «New York Times» auf, dass das Wirtschaftswachstum der USA ausgerechnet dann am stärksten war, als die Spitzensteuersätze bei hohen 70 Prozent lagen: nämlich bis in die 1980er Jahre. Später, mit tiefen Spitzensteuersätzen, ging die Wirtschaftsleistung zurück. Siehe Grafik:
Warum das so ist, ist für Krugman klar: 1000 Dollar Steuerersparnis für eine Familie mit einem Jahreseinkommen von 20‘000 Dollar mache einen grossen Unterschied, weil sie sich mehr leisten könne und die Nachfrage ankurble. 1000 Dollar Steuerersparnis für einen Millionär indes mache keinen Unterschied, da sie weder an dessen Konsum noch an dessen Lebensqualität etwas ändere.
Daraus zieht Krugmann den Schluss: Besteuert die Reichen! Denn selbst wenn sie etwas ärmer sind: Sie spüren nichts davon und können sich immer noch alles kaufen.
Dieser Text ist im September 2023 zuerst auf dem Blog von Walter Langenegger erschienen.