Der für die Schweiz sehr vorteilhafte bilaterale Weg – die Hälfte unseres Aussenhandels läuft über die EU – wird nur eine Zukunft haben, wenn wir die institutionellen Fragen regeln: Dazu gehören die Rolle des Europäischen Gerichtshofs, die Verordnung zum Streitbeilegungsverfahren, die flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz nach dem Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» (durch die beiden Verhandlungsparteien anerkannt), die Staatshilfen auf kantonaler Ebene oder die Aufnahme der Bürgerschaftsrichtlinie im Freizügigkeitsabkommen. Andernfalls stehen drei Möglichkeiten offen: Der Beitritt zur EU, der Beitritt zum EWR, der 1992 an der Urne abgelehnt wurde, oder einfach ein Freihandelsabkommen, das einen polit-ökonomischen Rückschritt bedeuten würde.
Nach Monaten des Zögerns hat der Bundesrat im Februar, ohne einen genauen Fahrplan, die «Bilateralen 3» lanciert, die eine sektorielle Annäherung und eventuelle neue Vereinbarungen in den Bereichen Strom, Forschung, Gesundheit und Bildung anpeilen. Die Klima- und Energiepolitik wären im Falle eines Scheiterns arg betroffen. Der Krieg in der Ukraine zeigt es in dramatischer Weise: Wie können wir trotz nationaler Bemühungen unseren Energiebedarf decken, ohne ein europäisches Netz der Produktion, des Transports und der Verwaltung?
Die SP Schweiz hat eine europapolitische Roadmap präsentiert, die zwei Phasen vorsieht. Der Parteitag hat im August 2021 eine Kommission, die durch Jon Pult, Mitglied des Parteipräsidiums, geleitet wird, beauftragt, eine Analyse vorzunehmen und konkrete Vorschläge für die Zukunft zu unterbreiten. Der Parteitag im kommenden Oktober wird den Bericht diskutieren. Die Beitrittsfrage wird im Zentrum der Debatte stehen.
Die Schweiz liegt mitten in Europa, in ihrer kulturellen Vielfalt, mit ihren demokratischen Prinzipien, einer integrierten Wirtschaft, facettenreichen Forschung, ihrer Sicherheits- und Migrationspolitik, und hat die Wahl: Der EU beitreten mit Stimmrecht und Mitgestaltung oder als fragwürdiger Finanz- und Handelsplatz von Rohstoffen das «Singapur Europas» werden. Wäre der EU-Beitritt nicht ein Projekt der progressiven Kräfte, umso mehr als die EU sowohl bezüglich Ökologie, Digitalisierung und sozialpolitisch im Umbruch ist? Zur europäischen Säule sozialer Rechte bekannten sich 2017 in einer Erklärung 28 Staaten. Verschiedene Richtlinien stehen vor der Umsetzung, so diejenigen zum Mindestlohn, zur Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern, zur Konzernverantwortung multinationaler Unternehmen oder zur Gründung einer europäischen Arbeitsvermittlungsagentur, welcher sich die Schweiz anschliessen sollte. Eine schöne Vision einer offenen Schweiz, florierend und solidarisch!
Mario Carera, Kandidat für das Vizepräsidium der SP60+