Damit wir alle «mehr vom Leben» haben! 

1. Mai Rede von Natascha Wey im Neubad in Luzern

Liebe Genossinnen, liebe Genossen, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, liebe Gäste der 1. Mai-Feier hier in Luzern

Es gibt ja diese Karikatur in Sachen Gleichstellung, die ich sehr mag: Eine 100-Meter-Rennbahn, am Start ein Mann und eine Frau. Die Bahn des Mannes ist frei, er kann im Prinzip einfach losrennen, nach 100 Metern wäre er am Ziel. Die Bahn der Frau ist nicht leer, sondern vollgestellt mit Hürden. Dort stehen Haushaltsgeräte, Bügelbretter, Wäscheleinen. Erst wenn die Frau alle diese Hindernisse übersprungen hat, so kommt sie ins Ziel. Man muss nicht viel von Sport verstehen um zu begreifen: Vermutlich wird sie die weniger schnelle Zeit rennen.  Und vermutlich wird sie im Ziel erschöpfter sein.

Diese Karikatur symbolisiert für mich den Umgang der liberalen Schweiz mit Gleichstellung und Chancengleichheit. Natürlich, in der Vergangenheit wurde viel erreicht: Es gibt Gleichstellungsgesetze, es gibt weitgehend rechtliche Gleichheit, es gibt heute Frauen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen oder in politischen Ämtern tätig sind. Und trotzdem sagt die liberale Schweiz den Frauen – um beim Bild der Karikatur zu bleiben: «Guckt mal, Fortschritt, ihr dürft jetzt auch mitrennen. Einfach eure Bahn konnten wir leider noch nicht räumen. Wenn ihr gleichzeitig mit den Männern ins Ziel kommen wollt, dann müsst ihr halt etwas schneller rennen und etwas höher springen. Aber das ist jetzt wirklich euer Problem.»

Das Motto des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes zum ersten Mai lautet: «Mehr zum Leben.» Ich musste etwas lachen, als ich auf Facebook die Veranstaltungsankündigung zum Anlass hier in Luzern gesehen habe. Dort stand nämlich – und ich nehme an es ist ein Verschreiber: «Mehr vom Leben». Ich habe mir schmunzelnd gedacht, dass «Mehr vom Leben» für die Situation der Frauen heute eigentlich treffender ist.  Klar, Frauen sind heute ökonomisch unabhängiger als vor 30 Jahren. Die gesellschaftliche Entwicklung verlief jedoch nicht parallel zur Integration der Frauen in den Erwerbsmarkt. Das grosse Problem der Frauen lautet heute: Doppel- und Dreifachbelastung. Noch immer weniger Geld. Und vor allem: noch viel weniger Zeit.

Der Grund ist simpel: Rund 70% der Frauen haben Kinder und der Nachwuchs will betreut werden. Nach wie vor übernehmen diese Betreuungsarbeiten hauptsächlich Frauen. Rund 80 Prozent der Männer arbeiten jedoch noch immer Vollzeit, im Vergleich dazu 59 % der Frauen Teilzeit, zu niedrigen Löhnen und mit fatalen Folgen für die Höhe der späteren Altersrente. Frauenrenten sind heute etwa 40% tiefer als Männerrenten. Dies liegt auch daran, dass ein Lohn für eine Familie heute kaum mehr zum Leben reicht. Was also einst von der Frauen- und der Arbeiterbewegung erkämpft wurde: das Recht der Frauen auf ausserhäusliche Erwerbsarbeit ist heute nicht mehr nur ein Freiheitsrecht, sondern oft auch eine Notwendigkeit.

Ich möchte ich nicht falsch verstanden werden. Dass Frauen heute erwerbstätig sind, dass sie die Möglichkeit auf ökonomische Unabhängigkeit haben, ist historisch gesehen ein Erfolg. Es ist unser Erfolg, es ist ein linker Erfolg. Erst 1988 trat hier in der Schweiz das revidierte Ehe- und Ehegüterrecht in Kraft, das es Frauen ermöglichte, ohne Einwilligung des Ehemannes einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen. Bekämpft hat es damals Christoph Blocher.

Ich will die Vergangenheit nicht romantisieren, ausserhäusliche Arbeit bedeutet auch Teilhabe an der Gesellschaft, gerade für Frauen. Und das in einer anderen Form als der Kernfamilie. Ich selber kann mich erinnern an die Erzählungen meiner Mutter über meine beiden Grossmütter, die darunter gelitten haben, Hausfrauen zu sein und einer patriarchalen Männerwelt zuzudienen. Das damals vor allem in der Werbung zementierte Bild der glücklichen Hausfrau war in Realität oft brutal: es bedeutete, in unglücklichen Beziehungen zu bleiben, es bedeutete, unfrei zu sein in den eigenen Entscheidungen und es hat vielen Frauen auf ihre psychische Gesundheit geschlagen.

Ich will also keinesfalls dahin zurück. Und trotzdem – die Tatsache, dass viele Frauen heute am Limit laufen, hängt damit zusammen, dass wir bei der gerechten Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit in den letzten 30 Jahren nicht wirklich weitergekommen sind. Das Erwerbseinkommen von Frauen ist um 108 Milliarden tiefer als das von Männern. Und die unbezahlte Arbeit, leisten Frauen trotzdem zu Dreivierteln.

Ich denke diesem Umstand ist es auch geschuldet, dass derart viele Frauen momentan so mobilisiert sind und sich für den Frauenstreik am 14. Juni ins Zeug werfen. Ich muss euch sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Genossinnen und Genossen, ich habe komplett den Überblick verloren. Überall spriessen Kommitees und Aktionsbünde aus dem Boden, es sprechen mich Frauen auf diesen Frauenstreik an, die bisher vermutlich weder das Wort Streik noch das Wort Feminismus oft in den Mund genommen haben. Frauen, die plötzlich finden: «Es längt. Es mues öppis goh.» Frauen, die es satt haben, mit Männern auf der 100 Meter-Bahn anzutreten, und halt noch einige Hürden mehr zu überspringen um dann mit einem Burn-Out ins Ziel zu kommen.

Die Frage bleibt: Was muss sich verändern? Es braucht Veränderungen an drei Fronten: beim Geld. Bei der Zeit. Und bei den Rollenbildern. Und soviel vorweg: alle drei hängen zusammen.

Die erste Front, das Geld ist die Einfachste: Lohngleichheit, höhere Löhne für sogenannte Frauenberufe und bessere Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – das sind langjährige gewerkschaftliche Forderungen. Und trotzdem müssen sie jetzt mit einer neuen Offensive gefordert werden. Dazu brauchen wir die Mithilfe der Männer in den Gewerkschaften – damit diese Themen im Fokus bleiben. Frauenbranchen sind Wachstumsbranchen. Und Frauenbranchen brauchen eine viel bessere GAV-Abdeckung und gute Mindestlöhne. Nehmen wir den Kinderbetreuungsbereich: Der Einstiegslohn einer Fachperson Betreuung beläuft sich auf rund 4000 Franken, derjenige einer diplomierten Kindererzieherin auf 5400 Franken. Der einzige Grund, wieso diese Arbeit so schlecht bezahlt wird, ist schlicht: weil sie von Frauen geleistet wird. Das Lohnbuch 2019 krasse Unterschiede schon bei den Einstiegslöhne deutlich auf: Ein Credit- und Riskmanager verdient 8769 Franken. Ein Chief Financial Officer gar 14’000 Franken monatlich.  Auch ein Treuhänder kommt auf 6500 Franken pro Monat. Wenn ihr mich jetzt fragt, was ich für anspruchsvoller und anstrengender halte: ein schreiendes und forderndes Kleinkind zu betreuen, oder ein schweigendes Portfolio gefüllt mit umweltschädlichen Aktien: ich würde vermutlich das Zweite wählen.

Nehmen wir jetzt also einmal an, unsere Kinderbetreuerin mit ihrem Einstiegslohn von CHF 4000.- Franken bekommt selber ein Kind. Dann sind wir beim zweiten Problem, dem Problem mit der Zeit. Jemand muss nämlich auf dieses Kind schauen. Ihr Partner, nehmen wir mal an, er ist der Treuhänder von vorher, verdient 6500 Franken. Die ökonomische Entscheidung ist klar: sie wird ihr Pensum reduzieren, denn er verdient schliesslich mehr. Er arbeitet zudem in einem KMU und sein Chef findet, Teilzeitarbeit sei für Weicheier aber sich nicht für Männer. So entscheiden sie sich, dass sie noch 60 Prozent arbeitet, dann hat sie etwa einen Monatslohn von CHF 2400 Franken.

Ihr Zeitproblem in den drei Tagen, in denen sie arbeitet ist jedoch nicht gelöst und die Kosten für die Kinderkrippe fressen grad nochmals einen Teil des gemeinsamen Einkommens weg. Kriegt das Paar ein zweites Kind, lohnt sich die Erwerbsarbeit der Frauen oft nicht mehr. Ob es überhaupt eine Kinderkrippe gibt, an dem Ort, an dem sie wohnen oder arbeiten, ist in der Schweiz – wie immer – von Kanton zu Kanton verschieden. Im Kanton Genf etwa beträgt der Kita-Versorgungsgrad 29 Prozent, im Kanton Appenzell Innerrhoden drei Prozent.

Deswegen ist eine zentrale Forderung, um das Zeitproblem der Frauen zu entschärfen: Einen Anspruch, auf einen qualitativ guten, unentgeltlichen Krippenplatz. Überall in der Schweiz. Es ist dies auch die Hauptforderung, welche die SP Frauen* an ihrer MV im März zum Frauenstreik in Bern verabschiedet haben. Als Linke sollten wir uns zwingend dafür einsetzen: Wir haben für die unentgeltliche Volksschule gekämpft, nutzen wir den Frauenstreik und kämpfen für ein Recht auf unentgeltliche Kinderbetreuung. Es braucht eine griffige Krippenfinanzierungfinanzierung, damit die Betreuungsqualität sichergestellt und die Arbeitsbedingungen und Löhne für das Personal gut sind.

Nehmen wir jetzt weiter an, die ersten beiden Forderungen sind erfüllt. Typische Frauenberufe erhalten höhere Löhne und Kinderbetreuung ist gratis – dann sind Frauen, im Falle einer Trennung im Alter schon viel besser gestellt. Das Zeitproblem der Frauen ist schon viel besser, aber dennoch nicht ganz gelöst. Denn es ist auch verknüpft mit dem dritten und letzten Punkt, den ich erwähnt habe: den Rollenbildern. Auch da braucht es einen Effort. Und– auch wenn ich dafür nachher Schimpfis kriege – auch innerhalb der Linken. Es spielt eben auch eine Rolle, wer von beiden daran denkt, den Zahnarzttermin für das Kind abzumachen. Den Kuchen für den Geburtstag der Schulkollegen zu backen. Und am Abend vor dem Fernseher noch die Socken zusammensucht.  Das sind alles Arbeiten, die nicht so sexy sind. Und die halt einfach gemacht werden müssen. Oft werden sie von Frauen gemacht. Und oft ist es diese zusätzliche Belastung, die Frauen dann davon abhält, auch noch politisch tätig zu sein. Oder ein anderes Hobby zu haben. Oder Freundschaften zu pflegen.

Damit wir weiterkommen brauchen wir eben auch linke und politische Männer, die nicht hinnehmen, dass der Arbeitgeber eine Reduktion des Pensums ablehnt. Die mit einer ähnlichen Vehemenz dafür kämpfen, wie die Frauen sich das Stimmrecht erkämpfen mussten. Die sich aktiv um die unbezahlte Arbeit kümmern und damit meine ich mehr Einsatz, als einmal im Monat zu staubsaugen, die Kinder zur Grossmutter und die Hemden selber in die Reinigung zu bringen. Denn ich bin überzeugt: erst wenn Männer selber erleben, was es bedeutet, die 100 Meter-Bahn mit den gleichen Hürden zu überspringen, werden wir als Gesellschaft gemeinsam so weit kommen, die Hürden so gut es geht auf die Seite zu stellen. Das ist schliesslich im Interesse von uns allen. Und es wird uns helfen, dem Motto der Veranstaltung von heute einen Schritt näher zu kommen. Damit wir alle «mehr vom Leben» haben.

 

 

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