Das Konzept der TV-Serie kommt gross daher und heisst allumfassend: „Die Schweizer“. Ein Rückblick nach vorn sei es, Wendepunkte der Schweizer Geschichte anhand prägender Figuren aus dem 14./15. (alte Eidgenossenschaft) und dem 19. Jahrhundert (moderner Bundesstaat), erklärt uns der Quoten-Rätoromane in der Fernseh-Geschäftsleitung in einem Interview. Diese Helden sollen uns erklären, „woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen“. Wow, da erwarte ich aber was! Sozusagen eine farbige Zusammenfassung meines Geschichtsstudiums, dramaturgisch und spannend dargestellt auf der Basis der neusten Forschung.
Nur: Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Serie als 5 Millionen teures verstaubtes Kostümfest, das vor lauter Quoten-Rücksichtnahme auf viele Befindlichkeiten (Konservative, Progressive, Landesteile etc.) ein vorgestriges Geschichtsbild transportiert. Stauffacher als Quoten-Rütlischwörer, angeblicher Schlachtenführer bei Morgarten (historisch nicht gesichert) und späterer Held der geistigen Landesverteidigung; Niklaus von der Flüh, Quoten-Heiliger und Ratgeber, der seine Frau mit zehn Kindern alleine zurückliess, als ihn der heilige Ruf erreichte; Hans Waldmann, hingerichteter Quoten-Zunftmeister und Bürgermeister von Zürich; Henry Dufour, Quoten-Welscher und umsichtiger General des Sonderbundskrieges, sowie Stefano Franscini, Quoten-Tessiner und freisinniger Politiker, und Alfred Escher, bahnaffiner Quoten-Banker. Dass bei diesem Potpourri keine Quoten-Frau vorkommt, ist wohl einer Budgetüberschreitungs-Kompensation zuzuschreiben: Die Macher planten dem Vernehmen nach auch ein Porträt von Germaine de Staël. Die Tochter eines Genfers, Aufklärerin und Literatin, zog mehr Fäden in ganz Europa als viele angebliche Schweizer Helden vor und nach ihr. Dass ausgerechnet die Quoten-Frau weggelassen wurde, spricht Bände.
Nur: Wer ein heldenfixiertes und damit antiquiertes Geschichtsbild vertritt, kann gar nicht auf die Idee kommen, dass Frauen in allen Epochen eine wichtige Rolle spielten. Die Tatsache, dass Frauen in der Schweiz bis weit ins 20. Jahrhundert keinen direkten politischen Einfluss hatten, heisst noch lange nicht, dass sie keine Rolle gespielt hätten. Das wurde einfach nicht sichtbar überliefert von den männlichen Geschichtsschreibern. Die amerikanische Historikerin Gerda Lerner hat diesen Prozess „die Vertreibung der Frauen aus Geschichte und Gesellschaft“ genannt. Auch die marxistisch geprägten 68er-Historiker sprachen von der Frauenfrage als „Nebenwiderspruch“ der Geschichte und erforschten lieber die Arbeiter. In den letzten 40 Jahren ist es dank Forschung gelungen, viele der weiblichen Einflüsse wieder sichtbar zu machen. Mann muss diese Studien halt lesen. In den Schulbüchern stehen sie nicht. Und damit zurück zum faulen Kern der Serie: Die Geschichte wird nie nur von einzelnen Männern und Frauen geprägt, sondern von vielfältigen sozialen, technischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen.
Wer auf die Führungsetage des Schweizer Fernsehens schaut, kann sich deshalb nicht wundern über das Ergebnis der TV-History. Das männliche Gruselkabinett spiegelt die Lerner-These von der Vertreibung aufs Trefflichste. Und zementiert täglich am Bildschirm den Mythos, dass Geschichte und Gegenwart von vermeintlich grossen Männern gemacht wird. (Die Frauen landen dafür in der Landfrauenküche.)
„Die Schweizer“ wird eine hohe Quote bringen, denn die Leute interessieren sich für Geschichte. Leider werden sie mit einem erzkonservativen Medley konfrontiert, das eine Sicht auf die Schweizer Geschichte zelebriert, bei der schon lange bekannt ist, dass sie von den Nation-Building-Historikern des 19. Jahrhunderts konstruiert worden ist.
Der eigentliche Skandal von „die Schweizer“ ist für mich denn auch weniger, dass keine Frau vorkommt, sondern dass uns im 21. Jahrhundert der gebührenfinanzierte öffentliche Sender ein antiaufklärerisches Geschichts-Panini-Album präsentiert, das weit hinter den Stand der Geschichtsforschung geht und die Trägerfiguren erst noch auswählt wie aus dem Schüttelbecher. Soviel zum Bildungsauftrag des Schweizer Fernsehens.
Gastkommentar in “Schweiz am Sonntag” vom 20. Oktober 2013