Der 1. Mai steht für die Solidarität

Referat von Paul Rechsteiner, Ständerat SG, Präsident SGB

Referat von Paul Rechsteiner, Ständerat SG, Präsident SGB
Es gibt Dinge, die laufen gut bei uns. Denken wir an den öffentlichen Verkehr, denken wir an die AHV. Andere leider weniger. Dazu gehört die Einkommens- und die Vermögensentwicklung in den letzten 10, 20 Jahren. Die Zahl der Einkommensmillionäre hat sich in dieser Zeit vervielfacht. Die hohen und höchsten Einkommen haben weit über das Produktivitätswachstum hinaus zugelegt.

Das Gegenteil ist bei den unteren und mittleren Einkommen passiert. Der Einkommenszuwachs liegt klar unter der Produktivitätsentwicklung. Zwar konnten wir in der Schweiz – im Gegensatz zu andern Ländern – das Absacken der tiefen Löhne verhindern und sogar eine Aufholbewegung einleiten. Dies dank der ersten Mindestlohnkampagne „Keine Löhne unter 3000 Franken“. Tatsache aber ist und bleibt, dass die grossen wirtschaftlichen Fortschritte in den letzten 10, 15 Jahren einseitig durch jene in den oberen und obersten Einkommenskategorien abkassiert worden sind.

Es muss doch zu denken geben, dass ein Fünftel der Haushalte bei uns in Schwierigkeiten kommen, wenn eine unvorhergesehene Ausgabe von 2000 Franken auf sie zukommt, zum Beispiel eine Zahnarztrechnung.

440‘000 Menschen in der reichen Schweiz verdienen zu wenig, um davon leben   zu können, anständig leben zu können. Ein Drittel, 140‘000, haben einen Lehrabschluss. Wie weit sind wir gekommen, wenn eine Lehre keine Garantie mehr dafür ist, dass man genug für ein anständiges Leben verdient?

Besonders krass ist die Situation in Branchen wie dem Detailhandel oder dem Gartenbau. Nehmen wir den Detailhandel, die grossen Kleider- und Schuhketten. Viele von ihnen gehören Milliardären. Ihren Verkäuferinnen aber bezahlen sie Schandlöhne. Trotz qualifizierter Arbeit.

Dass im Verkauf von Kleidern und Schuhen so miserable Löhne bezahlt werden, liegt nicht am fehlenden Geld dieser Milliardäre, sondern an den ungerechten Verhältnissen, die diese Ausbeutung möglich machen, und an der Lohndiskriminierung. Stoppen wir diese Ausbeutung! Stoppen wir die Diskriminierung! Ändern wir diese ungerechten Verhältnisse!

Das wirksamste Mittel dazu ist die Mindestlohninitiative, die Mindestlohnkampagne. 4000 Franken im Monat ist das Minimum, wenn jemand Vollzeit arbeitet. Die menschliche Arbeit hat nicht nur einen Wert, sondern auch einen Preis. Und wenn die Löhne unten dank Mindestlöhnen nicht mehr gedrückt werden können, dann stemmt das auch die mittleren Löhne wieder nach oben.

Wenn wir über die Mindestlohninitiative sprechen, dann lobt Herr Schneider-Ammann die Sozialpartnerschaft. Auch wir sind für die Sozialpartnerschaft. Aber für eine Sozialpartnerschaft mit Substanz, mit guten Gesamtarbeitsverträgen, Gesamtarbeitsverträgen mit Mindestlöhnen. Wenn man die Gesamtarbeitsverträge lobt, dann muss man auch etwas dafür tun. Hier hat die Schweiz Nachholbedarf. Bei der Förderung der Gesamtarbeitsverträge und bei den Mindestlöhnen. Damit jene Arbeitgeber, die Gesamtarbeitsverträge partout ablehnen, für ihre antisoziale Haltung nicht auch noch belohnt werden.

Die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne sind wichtig und ein Erfolgsmodell. Aber es gibt trotzdem ein grobes Problem mit den Flankierenden. Die Kontrollen sind Schritt um Schritt ausgebaut worden. Wir haben jetzt endlich auch Regeln bei Subunternehmen: Stichwort Solidarhaftung. Aber wenn wir sehen, dass bei 10 Prozent der Kontrollen in den Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag Lohnunterbietungen festgestellt werden, dann müssen nach Gesetz Mindestlöhne festgelegt werden. Aber noch kein Kanton in der Deutschschweiz hat einen Mindestlohn beschlossen, trotz der schwarz auf weiss festgestellten Lohnunterbietungen. Das ist eine Sabotage der flankierenden Massnahmen. Das gilt auch in diesem Kanton. Wir verlangen von den Regierungen, allen voran von den Volkswirtschaftsdirektoren: Schluss mit der Passivität! Schluss mit der Angst vor Mindestlöhnen! Bekämpfen Sie das Lohndumping und vollziehen Sie das Gesetz!

Wir stehen in der Frage der Mindestlöhne und beim Ausbau der Gesamtarbeitsverträge vor historischen Entscheiden. Ob die Schweiz hier vorwärts kommt, ist für das soziale Klima im Land entscheidend. Hier entscheidet sich absehbar auch die Zukunft der bilateralen Verträge. Die Bilateralen stehen vor neuen, fundamentalen Bewährungsproben, Stichworte sind die ausländerfeindlichen Initiativen.

Vielen ist vielleicht noch nicht bewusst, auf welch gefährlichen Pfad die knappe Mehrheit des Bundesrats letzte Woche eingespurt ist. Die knappe Mehrheit im Bundesrat will die Ventilklausel. Ausgenommen davon wird ausgerechnet der Kurzaufenthalt, also die prekärste Aufenthaltsbewilligung. Das Zünglein an der Waage für diesen fragwürdigen Entscheid war die Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements. Und jetzt will die Justizministerin in dieser bedenklichen Logik noch viel weiter gehen. Sie denkt daran, bei der Freizügigkeit neu generell auf befristete Verträge umzuschwenken, soweit dies möglich ist. Befristete Verträge sind für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schlecht. Sie haben wenig Schutz durch das Arbeitsrecht und keinen oder wenig Schutz durch Sozialversicherungen. Wer nur einen befristeten Vertrag hat, ist der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert.  Hinter dieser neuen Politik und den ganzen Konzessionen nach rechts aussen lauert die hässliche Fratze des Saisonnierstatuts. Wir hatten geglaubt, dass wir das endlich überwunden hätten.

Wohin führt die soziale Diskriminierung der Arbeitsmigrantinnen und –migranten? Wenn man die Beschäftigten gegeneinander ausspielt, dann verstärkt das den Lohndruck und schadet allen. Die Errungenschaften eines nichtdiskriminierenden Arbeitnehmerschutzes dürfen nicht wieder verspielt werden. Es ist mehr als bedenklich, wenn die traurigen Erfahrungen mit dem Saisonnierstatut, sie liegen noch nicht lange zurück, schon wieder vergessen sind.

Der Arbeitnehmerschutz in der Schweiz steht aber noch vor weiteren Herausforderungen. Beim Referendum gegen die 24-Stunden-Arbeit geht es um weit mehr als um die prekären Arbeitsbedingungen in den Tankstellenshops. Es ist leider kein Witz: Die 24-Stunden-Arbeit in den Shops an den Tankstellen sind für die Bürgerlichen zum Pilotversuch dafür geworden, was zukünftig allen Beschäftigten im Detailhandel droht. Und danach weit über den Detailhandel hinaus. –  Die Abstimmung wird somit eine Testabstimmung dafür, ob der Arbeitnehmerschutz bei der Arbeitszeit immer mehr ausgehöhlt werden kann. Oft wird vergessen, wie enorm die Stressbelastung an vielen Arbeitsplätzen angestiegen ist. Inzwischen leiden über ein Drittel der Beschäftigten ernsthaft darunter. Prekäre Arbeitsbedingungen mit immer mehr Nacht- und Sonntagsarbeit sind eine wesentliche Ursache dafür. All das müssen wir im Abstimmungskampf gegen die 24-Stunden-Arbeit klar machen. Es geht nicht um ein paar Tankstellenshops, sondern um viel mehr. Die Chancen für einen Referendumssieg sind intakt, auch wenn wir die geschlossenen bürgerlichen Parteien und fast alle Medien gegen uns haben. Ein Abstimmungssieg wäre ein grosser Gewinn für die Beschäftigten in diesem Land. Versenken wir diesen neoliberalen Unsinn!

Heftige Auseinandersetzungen stehen uns auch bei den Renten bevor. Wenn wir hören, was aus dem Bundeshaus angekündigt ist, dann geht es nicht mehr darum, ob die Renten verschlechtert werden sollen, sondern nur noch darum, um wie viel sie verschlechtert werden.  Und das obwohl wir alle Referenden gegen die Verschlechterung der Renten  mit erdrückenden Mehrheiten gewonnen haben.

Und jetzt kommt die SBB, ausgerechnet die SBB als Bundesunternehmen, und will bei der SBB-Pensionskasse als einer der grössten öffentlichen Kassen sogenannte „Wackelrenten“ einführen, die mit der Lage der Kapitalmärkte schwanken. Haupttäter bei dieser Abbauübung ist der SBB-Personalchef,  im Nebenamt freisinniger Politiker und Vorstandsmitglied beim Arbeitgeberverband. Bei der Luxusrente, die er selber einmal erwarten kann, wären Schwankungen kein Problem. Für die erdrückende Mehrheit der Lohnabhängigen auch bei den SBB ist die Basis der Altersvorsorge eine berechenbare Rente, auf die man sich im Alter verlassen können muss. Was die SBB hier aufgleisen wollen, ist sozialpolitische Brandstiftung, die gestoppt werden muss.

Bei all dem, was wir bei den Pensionskassen derzeit erleben, braucht es endlich eine positive Gegenbewegung bei der AHV: die Volksinitiative AHVplus. Um den Rückstand der AHV-Renten auf die Löhne wieder aufzuholen. Weil wir genug davon haben, uns ständig nur gegen Verschlechterungen zu wehren. Und weil wir dafür sorgen wollen, dass wenigstens die AHV wieder gestärkt wird, wenn die Renten der Pensionskassen derart unter Druck stehen. Denn für die Mehrheit der Leute mit unteren und mittleren Einkommen ist und bleibt die AHV die erste und wichtigste Säule der Rentenversorgung im Alter.

Beim Kampf für eine starke AHV zeigt sich, wie wichtig es ist, dass möglichst viele wieder verstehen, wie genial und einfach die AHV funktioniert. Denn zu viele haben das nach den ständigen Angstkampagnen der letzten 20 Jahre nicht mehr präsent. Weil man ihnen eingeredet hat, dass sie von der AHV sowieso nichts mehr sehen würden.

Deshalb müssen wir die Unterschriftensammlung und die Kampagne für AHVplus auch zu einem Stück Volksaufklärung machen. Zu einem Beitrag zur politischen Alphabetisierung in einem Umfeld, in dem das Soziale und die Sozialversicherungen systematisch schlecht gemacht werden. (Zu Recht wird heute wieder an den grossen Aargauer Volksaufklärer Heinrich Zschokke erinnert. Er prägte vor bald einmal 200 Jahren den Satz: „Volksbildung ist Volksbefreiung“. Unter veränderten Verhältnissen ist das so nötig wie einst.) Die AHV als unser zentrales Sozialwerk steht wie sonst nichts auch für den sozialen Zusammenhalt der Schweiz.

Was ist das Erfolgsgeheimnis der AHV? Es ist so einfach wie schlagend. Alle zahlen auf dem ganzen Erwerbseinkommen Beiträge. Auch wer Millionen kassiert und schamlose Boni ist voll beitragspflichtig. Aber niemand bekommt eine höhere Rente als 3‘510 Franken als Ehepaar oder 2‘340 Franken als Einzelperson. Dieses System ist so leistungsfähig, dass es die ganze Zunahme der Lebenserwartung finanziert hat. – Die gleichzeitig effiziente und solidarische Finanzierung sorgt dafür, dass eine Rentenverbesserung bei der AHV viel günstiger kommt als bei allen anderen Formen der Altersvorsorge. Günstiger als bei den Pensionskassen und erst recht um ein Vielfaches günstiger als bei den Privatversicherungen. Die AHV hat ein sensationelles Preis-Leistungsverhältnis. – Auch für die Jungen und vor allem für junge Familien. Dank der AHV müssen sie in den Jahren, in denen sie das Geld dringend brauchen, viel weniger sparen als wenn es die AHV nicht gäbe.

Es ist klar, dass das nicht allen passt. Die Versicherungskonzerne, die den Leuten ihre teuren Policen andrehen wollen, sponsern Studien und Lobbys, um die AHV schlecht zu machen. Und sie sponsern politische Parteien, um Reformen zu verhindern, die ihnen nicht gefallen.

Die AHV ist die grösste Errungenschaft der Gewerkschaftsbewegung, der Schweizer Arbeiterbewegung. Sie ist gleichzeitig die wichtigste soziale Errungenschaft des schweizerischen Bundesstaates überhaupt.

Wenn wir die AHV verteidigen, und wenn wir die AHV stärken wollen, dann kämpfen wir auch darum, in welche Richtung sich die Schweiz bewegt. Wie die Schweiz der Zukunft aussehen wird. Wird sie immer unsozialer, oder wird sie endlich wieder sozialer?

Der englische Autor Samuel Johnson prägte mitten im 18. Jahrhundert den berühmten Satz vom „Patriotismus“ als der „letzten Zuflucht des Schurken“. Das kann einem auch bei uns gelegentlich in den Sinn kommen. Etwa dann, wenn die Schweiz mit dem Bankgeheimnis gleichgesetzt oder verlangt wird, das Steuerhinterziehungsgeheimnis quasi als schweizerisches Nationalheiligtum zu verteidigen. Oder wenn Herr Maurer als amtierender Bundespräsident die antisemitische Flüchtlingspolitik während der Nazizeit mit ihren Folgen ins Gegenteil verklärt. Er schreckte ja schon als SVP-Präsident nicht vor der Lüge zurück, der auf Betreiben der Schweiz eingeführte Judenstempel sei eine Massnahme zum Schutz der Juden gewesen.

Es gibt aber auch einen anderen, besseren Begriff des Schweizerischen. Zum Beispiel jenen der Fussball-Nationalmannschaft, in ihrer Zusammensetzung ein Spiegel der realen Schweiz in ihrer Vielfalt. Dank der Tatsache, dass eine privilegierte Herkunft auf dem Spielfeld nicht zählt. Der Fussball ist in dieser Hinsicht der Politik weit voraus.

Und wie keine andere Institution prägt die AHV den positiven Begriff des Schweizerischen. Die AHV ist eine Volksversicherung für alle, die in der Schweiz arbeiten, unabhängig von der Farbe des Passes. Und sie ist eine Volksversicherung, die für einen sozialen Ausgleich sorgt. Bei der AHV sind alle gleich viel wert.

Das fundamentale Prinzip der Gleichheit ist das Grundprinzip der Demokratie. Die Gleichheit in der Vielfalt. Um solche elementaren Grundsätze geht es heute wieder.

Der 1. Mai steht für die Solidarität. Einer Solidarität, die nicht an den nationalen Grenzen Halt macht. Dies gilt gerade in diesem Jahr auch für die Solidarität mit den Menschen in den südeuropäischen Ländern, die von Massenarbeitslosigkeit und einer hier unvorstellbaren Verarmung geplagt werden. Sie sind Opfer einer katastrophalen Wirtschaftspolitik, einer Wirtschaftspolitik, die unter Ausschaltung der Demokratie von den Finanzmärkten diktiert wird. Von einem Finanzsektor, der mit seinen Missbräuchen die Krise ja erst herbeigeführt hat.

Der 1. Mai steht für eine soziale und demokratische Alternative zu diesen antisozialen Fehlentwicklungen.

Und er steht für die gewaltige Kraft der Solidarität. Sie ist heute so nötig wie schon lange nicht mehr.

Es lebe der 1. Mai.

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