Der 9. Februar und vier sozialdemokratische Antworten

Cédric Wermuth, Nationalrat AG

Cédric Wermuth, Nationalrat AG
Rede zum 1. Mai 2014 in Grenchen (SO) und Zofingen (AG): Ein modernes Bürgerrecht, endlich rückverteilen, mehr Wirtschaftsdemokratie und vorwärts nach Europa!

Ein kleines Herrenvolk in Gefahr

Es ist – auch drei Monate nach der Abstimmung – praktisch unmöglich, zurzeit eine politische Diskussion zu führen ohne über den 9. Februar zu sprechen. Tatsächlich, dieser Tag war und ist eine Zäsur in der schweizerischen Politik. Eine Zäsur, wie wir sie uns nicht gewünscht hätten. 

Im Zusammenhang mit dieser Abstimmung wird oft und gerne der berühmte Satz von Max Frisch zitiert: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“ . Leider wird immer nur dieser Satz zitiert und nicht der davor und der danach. Diese sind aber für das, was Frisch sagen wollte, genauso wichtig. Der Text „Überfremdung“ beginnt so:

Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich. Aber sie sind da.

Der Satz „ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr“ ist eben für den 9. Februar so tragisch treffend, weil diese Abstimmung eine Abstimmung unglaublicher Arroganz war. Es war zuerst ein Entscheid gegen die aussenpolitische Offenheit der Schweiz, gegen Europa. Als ich vor ca. 15 Jahren angefangen habe, mich politisch zu engagieren, war es noch relativ üblich, dass man auf jedem zweiten Podium hören musste, die EU brauche die Schweiz ja mehr als umgekehrt. Schliesslich hätten wir den Gotthard, die Demokratie und eine der gesündesten Wirtschaften. Inzwischen wissen wir, dass zumindest das letzte nicht mehr stimmt. Und konsequenterweise hat man das blödsinnige Argument auch jahrelang nicht mehr gehört. Jetzt, nach dem 9. Februar, ist es plötzlich wieder salonfähig. So salonfähig, dass unser Bundespräsident Burkhalter tatsächlich das Gefühl hat, er müsse dem Präsidenten der grössten Demokratie Westeuropas, dem Deutschen Joachim Gauck, bei einem Besuch in der Schweiz erklären, wie dieser seine Demokratie zu reformieren habe. Es hat sich eine Stimmung breit gemacht in unserem Land, in der es plötzlich wieder völlig legitim ist zu behaupten, wir seien besser als andere. Das Herrenvolk, vor dem Frisch so eindringlich warnte, ist zurück. 

Und dieses Herrenvolk ist ja scheinbar in Gefahr – und die Gefahr lautet Dichtestress, unter dem wir ja angeblich alle so furchtbar leiden. Genossinnen und Genossen, ich kann es nicht mehr hören. Es gibt in diesem Land keinen Dichtestress! Wer schon einmal versucht hat im peruanischen Lima in einen öffentlichen Bus zu steigen, der weiss, was Dichtestress ist. Wir haben nicht zu viele Menschen in den Zügen, sondern zu wenig Züge. Wir haben nicht zu viele Mieterinnen und Mieter, sondern zu viele Abzocker bei den Vermietern. Und wir brauchen nicht zu viel Energie wegen den Einwanderinnen und Einwanderern, sondern weil die Atomlobby die Energiewende systematisch blockiert und sabotiert. Wenn man die Schweiz nur so dicht verbauen würde wie zum Beispiel in Herrliberg in Zürich, dann hätten – und das ist tatsächlich wahr – über 12 Millionen Menschen Platz in diesem Land. Dichtestress gibt es in diesem Land höchstens, weil einige ältere Herren und Damen aus Herrliberg und Umgebung nicht mehr ganz dicht sind und wir in Bern wieder herumstressen müssen! 

Genossinnen und Genossen, genau dieses „wir gegen sie“ ist der Kern dieser Herrenvolk-Politik. Zu lange haben wir es zugelassen, dass diese Politik definiert hat, wer dazugehört und wer nicht, was schweizerisch ist und was nicht, wer Schweizer ist oder Schweizerin und wer nicht. Und wir waren zu lange in der Defensive, Genossinnen und Genossen. Wir dürfen uns diese Schweiz nicht länger von den Nationalistinnen und Nationalisten diktieren lassen – Wir müssen für eine Schweiz kämpfen, zu der alle gehören und darum muss eine Antwort auf den 9. Februar sein, dass wir die Frage des Bürgerrechts und des Rechts, Schweizerin oder Schweizer zu werden, für alle, die hier leben, wieder laut und deutlich formulieren. 

Und jetzt will man uns weismachen, das sei das Ergebnis einer Schweiz, die ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden habe. Genossinnen und Genossen, ich glaube, genau das Gegenteil ist der Fall. Und es lohnt sich gerade für die Linke, sich damit zu beschäftigen.

Ich glaube, der 9. Februar war vor allem eine Folge von drei Dingen: Von Unsicherheit, Angst und Ohnmacht.

Eine Gesellschaft der Unsicherheit, Angst und Ohnmacht

Unsere Gesellschaft ist heute eine Gesellschaft der Unsicherheit. Unsicherheit, weil sich vor allem unser Arbeitsleben sehr schnell sehr stark verändern kann. Unsicherheit darüber, was als nächstes passieren wird: Habe ich meinen Job nächstes Jahr noch? Wird meine Abteilung die nächste Restrukturierung überleben? Wann wird auch unsere Produktionsabteilung ausgelagert oder gar ins Ausland verschoben?

Und sie ist eine Gesellschaft der Angst. Eine Gesellschaft, die Angst hat vor der Zukunft: Werde ich meine AHV noch bekommen? Können wir uns die Ausbildung für unsere Kinder noch leisten und kriegen sie überhaupt noch einen Job? Werden uns die Chinesen überrollen? Überfordern die vermeintlichen Scheininvaliden die Sozialwerke? Und sind wir morgen alle Muslime? 

Aber diese Gesellschaft von Unsicherheit, Angst und Ohnmacht ist nicht vom Himmel gefallen, im Gegenteil. Sie ist politisch gewollt. Sie ist eine Folge der andauernden Angriffe auf den Sozialstaat und auf die Arbeitsbedingungen der Menschen. Und nur eine Gesellschaft, die Angst hat, lässt sich Renten kürzen, lässt sich Arbeitslosenversicherungen kürzen und akzeptiert, mehr zu arbeiten für einen immer kleineren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Genau darum geht es – um ein gigantisches Projekt für die Umverteilung von Reichtum von unten nach oben. Die Zahlen sind gewaltig und es ist extrem wichtig, dass wir uns immer wieder bewusst werden, an welche gigantischen Unterschiede wir uns inzwischen gewöhnt haben. Meine Lieblingswebsite istbilanz.ch, da kann man immer live schauen, wer gerade die reichste Person ist in der Schweiz. Das ist kein Witz. Die Liste der 300 Reichsten beginnt – ganz unten – mit Vermögen von ca. 400 Millionen Schweizer Franken, zum Beispiel die Familie Bär der Bank Bär. Möchte jemand, der heute knapp den von den Gewerkschaften geforderten Mindestlohn verdient – also 4000 Franken –  auf diesen Betrag kommen, hätte diese Person nie auch nur einen Franken ausgeben dürfen und ca. 6000 vor Christus mit arbeiten anfangen müssen. Also ungefähr zu der Zeit, als die Britischen Inseln vom europäischen Festland getrennt wurden. Aber nicht nur die Differenzen zwischen ganz unten und ganz oben sind krass, sondern zunehmend auch zwischen der Mitte der Gesellschaft und ganz oben. Um das zu verdienen, was der UBS-Chef in zehn Jahren eingesackt oder der ehemalige Novartis-Chef Daniel Vasella als Abgangsentschädigung erhalten hat, dafür hätte ein Aargauer Lehrer 20 Mal wiedergeboren und jedes Mal 40 Jahre ohne Pause durcharbeiten müssen. 

Genossinnen und Genossen, diese riesige Umverteilung ist nicht nur anekdotisch, sie lässt sich statistisch belegen. Wenn wir die Vermögen der 300 Reichsten im Jahr 2007 – also gerade vor der Krise – zusammenzählen, kommen wir insgesamt auf 460 Milliarden Franken Reinvermögen. Das ist ungefähr das Bruttoinlandprodukt von Norwegen oder Schweden. Wenn wir heute, 2014, die Bilanzliste konsultieren, besitzen die gleichen 300 Reichsten zusammen 564 Milliarden Franken Reinvermögen – 100 Milliarden Franken mehr in einer Zeit, in der der Kontinent in der grössten Krise seit dem 2. Weltkrieg steckt. Und die Montag letzter Woche veröffentlichten Zahlen des Bundesamts für Statistik korrigieren endlich die Lohnlüge von Economiesuisse und Konsorten, die uns weismachen wollen, es profitierten alle. Fakt ist: Die 10 Prozent höchsten Löhne sind seit 2010 im Schnitt um 9900 Franken pro Jahr gestiegen, die tiefsten 10 Prozent der Löhne hingegen – und das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen – die tiefsten 10 Prozent sind nochmals gesunken! Um fast 300 Franken pro Person und Jahr.

Eine linke Antwort auf die Ohnmacht

Genossinnen und Genossen, wir dürfen uns diesen Skandal nicht länger bieten lassen: Wenn der Chef von C&A in der Weltgeschichte herumrennt und erklärt, er könne sich keine Löhne von 4000 Franken leisten und gleichzeitig eine neue Villa am Zürichsee baut, dann müssen wir laut und deutlich nein sagen. Diese Sauereien dürfen wir in diesem Land nicht mehr zulassen! Und darum ist ein Ja am 18. Mai zur Mindestlohninitiative so zentral und so wichtig. 

Aber jedes Mal, wenn wir in diesem Land nur etwas mehr soziale Gerechtigkeit einfordern, sei es bei den Steuern, bei den Renten oder eben bei den Löhnen, kommt der Hammerschlag von oben. „Wir können leider nichts machen, weil sonst gehen wir im internationalen Standortwettbewerb unter!“ Es kommt mir manchmal vor, als seien wir wieder im Absolutismus. Die selbst ernannten Herrscher behaupten, sie würden einen höheren Willen ausführen – früher Gott, heute der Markt – und wir würden besser schweigen, ihnen Privilegien gewähren und ihnen gehorchen, sonst käme die Katastrophe. Diese dauernde Drohung und das Gefühl, dass hier ökonomische Kräfte wie Naturgewalten über uns hereinbrechen, ohne dass wir uns politisch wehren könnten, das schafft politische Ohnmacht. Diese Ohnmacht und Wut entladen sich, weil man sich gegen die oben ja nicht wehren darf, gegen unten. Das Resultat sind verschärfte Asylgesetze, eine Minarettinitiative oder eben der 9. Februar. Und wir, Sozialistinnen und Sozialisten, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Gewerkschaften, Linke müssen auf diese Ohnmacht ebenfalls eine Antwort geben. 

1918 sind in Grenchen drei Menschen gestorben im Kampf für die politische Demokratie. Der Generalstreik war die Antwort der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung auf die Ohnmacht der damaligen Zeit. Sie haben sich gesagt, wenn die politische Elite ihr Privateigentum an der politischen Macht missbraucht, dann müssen wir es ihr eben entreissen. Das ganze 20. Jahrhundert wurde zu diesem Kampf um die politische Macht in der Schweiz, der erst mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 sein vorläufiges Ende fand. 

Wenn heute eine kleine ökonomische Elite ihre wirtschaftliche Macht missbraucht; wenn die Demokratie an den elektronisch gesicherten Eingängen der Grossbanken ein Ende findet, dort wo die wirklichen Entscheide getroffen werden; wenn uns diese Elite vor den tatsächlichen Königspalästen unserer Zeit aussen vor lässt; wenn sie uns sitzen lässt in der scheinbaren Ohnmacht, nichts mehr tun zu können gegen ihre Macht, dann sollten wir uns am Generalstreik 1918 ein Beispiel nehmen. Dann ist es an der Zeit, dieser Elite die Macht über die Wirtschaft wegzunehmen, die Menschen selber entscheiden zu lassen, was unsere Wirtschaft soll und darf – in einem Wort: unsere Wirtschaft zu demokratisieren. Das heisst, den Menschen ihre Souveränität wieder zurückzugeben, damit sie selber bestimmen, was die Wirtschaft darf und was sie nicht darf und nicht umgekehrt. Die grosse Herausforderung nach Finanzkrise und 9. Februar für das 21. Jahrhundert ist diese Demokratisierung unserer Wirtschaft.

Bürgerrechte, Rückverteilung und Wirtschaftsdemokratie in Europa

Genossinnen und Genossen, wer jetzt glaubt, diese Aufgabe könnten wir alleine in unserem kleinen Nationalstaat lösen, der oder die hat sich gewaltig geschnitten. Ein sozialdemokratisches Projekt für eine andere Schweiz, für eine Rückverteilung des Reichtums und für mehr Wirtschaftsdemokratie gibt es nur in einem sozialdemokratischen Europa! Dieses Europa sieht heute natürlich anders aus als so, wie wir es möchten – aber die Schweiz von 1918 hat noch viel schlimmer ausgesehen. Niemand würde heute behaupten, es hätte sich nicht gelohnt für eine andere Schweiz zu kämpfen. 

Und genau so muss unsere Perspektive auch sein: Wir stehen am Anfang einer Auseinandersetzung in der Schweiz und in Europa. Wenn die Abzocker und die Nationalistinnen und Nationalisten jetzt glauben, wir seien nach dem 9. Februar geschlagen, dann irren sie sich gewaltig. Und sie sollen es bis Herrliberg hören: Herr Blocher, wir lassen die Menschen in diesem Land nicht mit Ihnen alleine, diese Schweiz gehört uns allen und wir werden sie Ihnen entreissen und zurückgewinnen, das verspreche ich Ihnen!

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