Die Münchner Sicherheitskonferenz ist ein exklusives Treffen der weltpolitischen A-Liga. An die 700 Teilnehmer, darunter 30 Staatspräsidenten, viele Prominenzen, Eminenzen, viele, viele Ministern und Generäle, d.h. 600 Männer – und weniger als 100 Frauen – debattieren drei Tage im Hotel Bayrischer Hof. (Meine Einladung verdankte ich meiner Bekanntschaft mit Konferenzleiter Wolfgang Ischinger und der SPIEGEL-Connection meiner Frau.)
Das überragende Thema war TRUMP, der Elefant im Raum und vor allem sein Schatten über der Weltpolitik. Zumeist sprach man über ihn wie Harry Potter über den Bösewicht Voldemort: «Der, dessen Namen nicht genannt werden darf». «Er» war omnipräsent oder vielmehr die grosse Verunsicherung, die seine chaotische Präsidentschaft in der Weltpolitik ausgelöst hat. Er hatte wiederholt erklärt, die NATO sei «obsolet». Heisst das das Ende der transatlantischen Solidarität, das Ende des Westens überhaupt?
Diese Verunsicherung provoziert an der Konferenz verzweifelte Hoffnungen auf Gewissheiten, Hoffnungen auf noch so schwache Hinweise, dass nicht alles zur Disposition stehe, Hoffnungen auf Kontinuität.
Der Brandstifter in Washington hat seinen Biedermann, Vizepräsident Mike Pence, nach München geschickt. Dieser hält eine gute Rede und bekräftigt eloquent – im expliziten Auftrag seines Präsidenten, wie er behauptet – das «unerschütterliche Einstehen Washingtons» für die atlantische Allianz, «weil wir verbunden sind durch dieselben Ideale Freiheit, Demokratie, Recht und Rechtsstaatlichkeit». Pence fordert aber Solidarität, konkret die Aufrüstung der europäischen NATO-Partner auf die versprochenen zwei Prozent der Wirtschaftsleistung. Er sagt nichts zur Europäischen Union, nichts zum neuen Protektionismus. Er lässt auch keine Fragen zu und tritt von der Bühne.
Aufatmen im Saal: Alles nicht so schlimm.
Also beschwört man die transatlantische Einigkeit und die Verteidigung gemeinsamer Werte in einer Solidarität, die kaum noch über europäische Lippenbekenntnisse zur Aufrüstung hinausgeht. Bündnistreue misst sich am Militärbudget. Die magischen zwei Prozent werden zum neuen Schlagwort transatlantischer Solidarität. Aber auch diese werden sofort wieder relativiert, so von Sigmar Gabriel, der die deutschen Milliarden für die Flüchtlinge als Stabilitätsbeitrag verstanden haben will.
Hoffnungen sterben zuletzt und die Strohhalme sind vielfältig:
- «Gebt dem Trump doch eine Chance» plädiert der frivole britische Aussenminister Boris Johnson, der dazu noch die Stirn hat, den Brexit als «Befreiung» von Brüssel zu loben. Er plädiert für Freihandel statt europäischer Integration, Freihandel stehe auch in Art. 2 des NATO-Vertrages. Der Protektionismus seines Mentors im Weissen Haus bleibt unerwähnt.
- Es sei nicht wichtig, was Trump sage, sondern was er tue, argumentiert der republikanische Senator McCain, einer der wenigen seiner Partei, die den Präsidenten offen kritisieren. 2008 unterlag er gegen Obama in den Präsidentschaftswahlen. Im Schatten von Trump werden solche Leute, wie auch General Petraeus plötzlich zu Hoffnungsträgern, weil sie zumindest rational argumentieren und damit für Kontinuität stehen. Petraeus war CIA-Chef und Oberbefehlshaber im Irak.
- Überhaupt seien ja erfahrende Persönlichkeiten zu Ministern gewählt worden, während im Umfeld von Trump nur «Verwirrung» herrsche, so McCain. Nur stellt sich die Frage, wer kontrolliert wen, und wer ist überhaupt noch bereit, sein berufliches Schicksal mit dem Egomanen im Weissen Haus zu verbinden. Petraeus reagiert verlegen auf die Frage, ob er für die Regierung zu arbeiten bereit sei, und sagt dann, ja er habe einmal seine Bereitschaft signalisiert. Hunderte von Schlüsselpositionen der Regierung sind noch nicht besetzt worden. Die Supermacht blockiert sich selbst, oder wie es der UN-Syrienbeauftragte Staffan de Mistura zu den aktuellen Verhandlungen sagt: «Wo sind die USA? – Ich weiss es nicht».
- In einer Diskussionsgruppe beteuert ein früherer Spitzenbeamter, die amerikanische Sicherheitsstrategie habe sich nicht geändert, nur sei jetzt halt unklar, wie man diese mit einer protektionistischen Handelspolitik verbinden wolle. Ein anderer hält dagegen den Wandel für grundsätzlicher: Früher sei man sich zwischen Demokraten und Republikaner einig gewesen über die Ziele, der Rahmen war unbestritten. Die Differenzen betrafen nur die einzusetzenden Mittel. Heute seien auch die Ziele unklar. Ein weiterer sprach offen vom «Kollaps des politischen Zentrums».
- Das alles gibt Auftrieb für Phantasien verschiedener Teilnehmer im persönlichen Gespräch, wie man diesen Präsidenten loswerden könnte. Sein skandalöser Führungsstil könnte ja bald zu einer Situation führen, in der ihm Vergehen nachgewiesen werden, die ein Amtsenthebungsverfahren ermöglichen. Ich glaube nicht an diesen Optimismus. Wie sollten sich bis zu den nächsten Erneuerungswahlen 2019 – das Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats werden dann neu gewählt – genügend Republikaner finden, die für ihre persönliche Wahl kalte Füsse bekommen und den eigenen Präsidenten stürzen. Dafür braucht es im Senat zwei Drittel und die Mehrheit im Repräsentantenhaus.
- Oder die Volksproteste eskalieren und weisen den Präsidenten in die Schranke. Wohl kaum, denn Trumps Umfragewerte sind stabil und der Vietnamkrieg konnte erst nach vielen Protestjahren gestoppt werden.
Ich befürchte vielmehr, dass sich Trump im Desaster seiner Amtsführung und angesichts der wachsenden Spaltung der amerikanischen Gesellschaft von seinem Mephisto Steve Bannon in einen neuen Krieg treiben lässt. Krisenregionen gibt es viele. «Make America great again!» Trump rüstet auf. Ein Krieg einigt die Nation. Für Bannon entsteht das Neue nur durch Gewalt, Krieg und Zerstörung.
Aber die Verunsicherung führt an der Konferenz nicht dazu, dass von europäischer Seite der Wille geäussert würde, gegen Trump die gemeinsamen westlichen Werte zu bekräftigen. Das Auseinanderdriften in Europa wird nur noch deutlicher.
- Mutti Merkel wird’s nicht mehr richten. Noch vor zwei Jahren ist die Kanzlerin in München kraftvoll der Forderung McCains entgegengetreten. McCain und andere amerikanische Kongressabgeordneter forderten damals lautstark westliche Militärhilfe für die Ukrainer im Kampf gegen die russischen Separatisten. Dieses Mal wirkte Merkels müde Rede wie ein Abgesang auf eine früher erfolgreiche Kanzlerschaft.
- Für den Präsident und für den Aussenminister von Polen beschränken sich die gemeinsamen Werte nur noch auf die westliche Solidarität mit den polnischen Sicherheitsbedürfnissen. Der Aussenminister muss sich daraufhin auf offener Bühne eine Lektion des Vizepräsidenten der EU-Kommission Timmermans über europäische Werte anhören. Übrigens stand Polen am Ende des Kalten Krieges wirtschaftlich auf gleichem Niveau wie die Ukraine und hat seither dank der EU sein Sozialprodukt vervierfacht. In München sind die beiden Polen aber nur noch peinlich.
- Der russische Aussenminister Lawrow rattert seine Rede runter mit den bekannten Vorwürfen an den Westen, für die westlichen Anschuldigungen gebe es keine Beweise. Er fordert, Sicherheit gemeinsam neu zu definieren. Die Enttäuschung Putins, dass die erhoffte Männerfreundschaft mit dem andern Macho jenseits des Atlantiks nichts gebracht hat, wird deutlich. Moskau anerkennt seit kurzem die Ausweispapiere der ostukrainischen Separatisten. Der Konflikt droht dort zu eskalieren.
Mit der Eleganz eines Londoner Investmentbankers tritt dafür der chinesische Aussenminister auf und hält ein Plädoyer für Multilateralismus, bilaterale Zusammenarbeit und «Global Governance», als wäre er ein westlicher Politiker vergangener Jahre. Auf die Frage, wie weiter mit Nord-Korea plädiert für Dialog, überzeugt aber nicht. – Crazy new world.
Ich frage einen NATO-Botschafter, ob in der NATO überhaupt diskutiert werde, ob und warum die auf rechtsstaatlichen und demokratischen Werten begründete Allianz die Beistandspflicht gegenüber Erdogans neuen Diktatur in der Türkei aufrechterhält. Die Antwort: Nein, die Beistandspflicht sei auch damals nach dem Militärputsch in Griechenland nicht in Frage gestellt worden.
Aus diesen für mich erschütternden Erfahrungen drei Folgerungen für die Schweiz:
- Erstens, der Aufruf, mehr Sicherheit durch Aufrüstung und die Zwei-Prozent-Debatte werden auch die Schweiz erfassen. Bundesrat Parmelin sass zwei Tage aufmerksam im Saal. Ich bin gegen eine Aufrüstung, ausser für einen stärkeren internationalen Einsatz und im Cyber-Bereich.
- Zweitens, der letzte aussenpolitische Bericht des Bundesrats ist für mich zu optimistisch, wenn er noch «kein(en) langfristig(en) Negativtrend» erwartet. Die «hohe Dynamik des globalen Wandels» erfordere «Flexibilität in der Aussenpolitik». Wenn heute die gemeinsamen abendländischen Werte von Demokratie, Rechtsstaat, Völker- und Menschenrechte ausgehebelt werden, wenn sogar die Wahrheit postfaktisch zur Disposition gestellt wird, brauchen wir nicht Flexibilität, sondern solidarische Standfestigkeit in einer offensiven Verteidigung unserer Prinzipien. Das ist unser Interesse und dafür müssen wir unser Potential als mittlerweile 17.-grösste Wirtschaftsnation international einbringen.
Hier steht uns eine politische Auseinandersetzung mit der SVP bevor, die gegenüber dem Weltgeschehen eine neue Gesinnungsneutralität einfordert. Sie überhöht damit das aussenpolitische Instrument Neutralität zur «verfassungsmässigen Staatssäule» (Köppel). Die Neutralität war nie Ziel oder Zweck unseres Staates, sondern nur ein Mittel seiner Politik, für das in der Verfassung (Art. 185) lediglich die Zuständigkeit festgelegt ist. Die alte leidige Debatte über die Gesinnungsneutralität wird zurückkehren. - Drittens, wenn die Weltpolitik aus den Fugen gerät, werden die über 20 fragilen Krisenregionen der Welt noch gefährlicher. Das sind die Brutstätten künftiger Kriege und Hungersnöte. Das IKRK hat schon vor fünf Jahren vor dem IS gewarnt. Von der Weltbank und der Entwicklungspolitik werden hier neue Prioritäten gesetzt, von denen auch unsere internationale Zusammenarbeit lernen soll.