Ich lebe in Deutschland, komme aber oft in die Schweiz und lese täglich Schweizer Zeitungen. Dabei werde ich das Gefühl nicht los, dass wir in unserem Land noch gar nicht richtig begriffen haben, wie radikal sich die Welt verändert hat und wie die sich verschärfenden gleichzeitigen Mega-Krisen auch unsere Zukunft gefährden: der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die düsteren Wirtschaftsaussichten mit Inflation und fragilen Finanzmärkten, die Hungersnöte, hundert Millionen Menschen auf der Flucht, die immer häufigeren Klimakatastrophen und eine noch nicht ausgestandene Pandemie. Die Auswirkungen auf die Schweiz können wir noch nicht absehen. Sicher ist nur, dass wir in Zukunft noch stärker auf unsere Partner in Europa angewiesen sind. Dabei auf deren Goodwill zu hoffen, wenn es brennt, ist naiv. Was zählt, ist eine vertraglich abgesicherte Partnerschaft in und mit Europa. Doch diese muss dringend erneuert und ausgebaut werden, denn die bestehenden bilateralen Verträge erodieren.
Autor: alt SP-Nationalrat Tim Guldimann, 2010 bis 2015 Schweizer Botschafter in Berlin
Politische Diskussionen finden zunehmend nur noch in Blasen statt. Positionen ausserhalb werden kaum mehr wahrgenommen. Das ist auch die Tragödie der schweizerischen Europadiskussion, die das Kopfschütteln im Ausland gar nicht sehen will. In unserer Blasendebatte wird eidgenössisches Unbehagen seit Jahren mit immer neuen «sachlichen» Hindernissen übertüncht – seien dies fremde Richter oder die «Unionsbürgerrichtlinie». Und über allem schwebt die nie bewiesene Ausrede des Bundesrates, ein Abkommen wie das ausgehandelte Rahmenabkommen sei innenpolitisch nicht konsensfähig. Deshalb hat er vor anderthalb Jahren das INSTA ohne Plan B versenkt. Seither wird nur noch «sondiert».
Zu diesem Debakel hat der Europaausschuss des Deutschen Bundestags am 28. September 2022 eine Erklärung verabschiedet, die – so die Süddeutsche Zeitung unter dem Titel «Am Ende der Geduld» – eine rasche Regelung «im Rahmen der Prinzipien des europäischen Rechtsraums» fordert und von Bern wissen will, wie es nun weitergehen soll.
Aber die Berner Mühlen mahlen langsam. Für viele Magistratspersonen ist die Frage ihrer Wiederwahl im Oktober 2023 sehr viel wichtiger als die dringenden Fragen der Landesinteressen. Was soll’s, nach vierzehn Jahren Palaver – nämlich seit der klaren Forderung eines Rahmenabkommens durch den Ministerrat 2008 – spielen doch ein paar Monate auch keine Rolle mehr. Oder?
Unsere Partei hingegen weiss, was sie will. Am Parteitag der SP Schweiz am nächsten Wochenende in Basel soll die Europastrategie verabschiedet werden, die der europapolitische Ausschuss unter SP-Nationalrat und Vizepräsident Jon Pult ausgearbeitet hat. Das ist eigentlich, was unsere europäischen Partner von der offiziellen Schweiz so gerne hören möchten: Inhalt und Fahrplan. Unsere Strategie ist klar, die Zeit drängt. Entscheidend ist das Signal einer klaren Ansage an verschiedene Adressat:innen – gegenüber dem Bundesrat, gegenüber anderen Parteien und gegenüber den Partnern im Ausland. Ich hoffe, dass wir damit auch einen Schwerpunkt für den bevorstehenden Wahlkampf 2023 festlegen.
Natürlich wird es Einwände geben am Parteitag, dazu dienen ja solche Veranstaltungen. Ich zum Beispiel würde mir ein klares Bekenntnis zum Schiedsgerichtsverfahren im Streitbeilegungsmechanismus wünschen, worin für die Auslegung des EU-Rechts, das in den Abkommen enthalten ist, der Europäische Gerichtshof (EuGH) beigezogen werden kann und soll. Wenn wir für 2027 den Beitritt fordern, können wir uns doch schon heute zum EuGH bekennen, wenn es um EU-Recht geht. Andere werden in eine andere Richtung argumentieren.
Aber machen wir uns nichts vor, für die öffentliche Debatte geht es nicht um Details, sondern um das klare Signal der Partei, um ihre Geschlossenheit und ihren europapolitischen Willen. Dieses Signal zu setzen, ist die Chance des Parteitags.