Die Familienrealitäten haben sich in den letzten Jahren stark verändert

Referat von Yvonne Feri, Nationalrätin AG, Präsidentin SP Frauen Schweiz

Referat von Yvonne Feri, Nationalrätin AG, Präsidentin SP Frauen Schweiz
Stellen Sie sich vor, alle Männer in der Schweiz würden für drei Tage streiken. Was würde geschehen? Das Bankgeschäft würde stagnieren, alle Baustellen, Strassenarbeiten würden still stehen und es gäbe nicht mehr viele Firmen, die geleitet würden. Das Auto bleibt kaputt, der IT-Support nimmt das Telefon nicht ab und die Fassade wird nicht gestrichen. Nun, drehen wir es um. Was passiert, wenn alle Frauen in der Schweiz einen Generalstreik durchsetzen? Die Kinder kommen nicht zum Kindergarten bzw. in die Schule, der Kühlschrank bleibt leer, die Wäsche ungewaschen, die Patientinnen und Patienten in den Krankenhäusern werden nicht betreut und die meisten Läden haben kein Verkaufspersonal mehr. So könnten wir dieses Bild noch ewig weiter ausmalen, auch wenn es – zugegeben – stark stereotyp ausfällt.

Was ich bezwecken will mit dieser Vorstellung ist, aufzuzeigen, wie wichtig es ist, dass Mann UND Frau ihren Tätigkeiten nachgehen können – im Haus, ausser Haus, bezahlte Arbeit, unbezahlte Arbeit. Aber so, dass sie nicht in finanzielle und organisatorische Schwierigkeiten geraten oder gar zu Working Poor werden. Die Aufgaben und Stellungen von Mann und Frau haben sich in unserer Gesellschaft unaufhaltbar verändert, doch das gesellschaftliche System hinkt noch immer hintendrein. Deshalb brauchen wir dringend eine moderne Familienpolitik, die schlussendlich, wie anfangs aufgezeigt, auch Wirtschaftspolitik ist! Sie und ich – wir wissen es alle!

Familienrealitäten haben sich in den letzten Jahren stark verändert – es gibt Ein- und Doppelverdiener-Familien, Eineltern- und Patchworkfamilien und unterschiedliche intergenerationelle Betreuungsmodelle. Gleichzeitig ist die Schweiz ein Land mit der höchsten Frauenerwerbsquote, die auch eine der höchsten Teilzeitquoten beinhaltet. Bei den einen Frauen ist dies aus freien Stücken, weil es ihre Art ist, Familie und Erwerbsarbeit unter einen Hut zu bringen. Bei anderen geschieht es eher aus einer Not heraus, weil es keine bezahlbaren oder verfügbaren familienergänzenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Haushalte mit Kindern – und insbesondere Einelternfamilien und kinderreiche Familien – haben ein besonders hohes Armutsrisiko und sind stärker vom Phänomen der Working Poor betroffen. Lag die Armutsquote 2010 im Durchschnitt bei 7,9%, war sie bei Einelternfamilien mit 25,9% mehr als drei Mal höher. Eine überdurchschnittliche Armutsgefährdung weisen auch Personen in Haushalten mit zwei Erwachsenen und drei oder mehr Kindern auf (21,2%). Soweit die Ausgangslage.
Wir fordern genügend familienergänzende Kinderbetreuung!

Eine richtige Familienpolitik beinhaltet flächendeckend eine qualitativ gute familienergän-zende Kinderbetreuung. Die Familienzulagen müssen erhöht und die Krankenkassenprämien gesenkt werden. Der Mutterschaftsurlaub muss ausgebaut und ein nennenswerter Elternur-laub etabliert werden. Zudem wird die Familienarmut nicht nur als Schlagwort benutzt, son-dern wirklich bekämpft, indem die ökonomische Existenzsicherung von Kindern angegangen wird.
Wir brauchen Ergänzungsleistungen und konkrete Projekte gegen die Familienarmut!
Familienarmut ist nicht nur als reales Problem anzuerkennen, sondern sie ist aktiv in Form von konkreten Projekten zu bekämpfen. Es soll das Ziel sein, Erwerbsanreize zu schaffen und die Vereinbarkeit von sozialem Leben, Familie und Erwerbsleben zu fördern. In den Ergän-zungsleistungen für Familien sehe ich eine vordringliche Lösung.

Und endlich: Die Individualbesteuerung unabhängig von Geschlecht und Lebensform!
Das geltende Steuerrecht führt unbestritten zu fragwürdigen Ungerechtigkeiten zwischen den verschiedenen Zivilstandsformen. Der Bundesrat soll eine Individualbesteuerung prüfen, welche steuereinkommensneutral ausgestaltet ist. Besteuerung soll fortan unabhängig vom Zivilstand, unabhängig vom Geschlecht und unabhängig von der gewählten Lebensform er-folgen. Anstatt wie die CVP die Ehe als einziges Modell des Familienlebens zu zementieren oder wie die SVP die traditionelle Familie hochzustilisieren, wird damit die Realität in den Blick gefasst.
Nun zurück zum 1. Mai und den Themen, die uns in der Arbeitswelt und Arbeitssicherheit zurzeit beschäftigen. Denn da gibt es viel Diskussionsstoff, auch immer wieder in Bezug auf die Geschlechter. Es ist Fakt: Männer dominieren die Chefetagen und nur auf jedem 20. Chefsessel sitzt eine Frau. Das weibliche Geschlecht soll nun aufholen: Im letzten Herbst sprach sich das Berner Stadtparlament für eine Frauenquote in der Stadtverwaltung aus. Ist das der richtige Weg? Oder ist es eine Schande, eine Quotenfrau zu sein? Können die Frauen nicht? – wollen sie nicht? – lässt man sie nicht? Zur Klarstellung: ich bin gegen Frauenquoten, aber für Geschlechterquoten. Es geht wiederum darum, die Realität zu akzeptieren und den Zugang nach Oben oder in geschlechtsuntypische Berufe zu gestalten. Das bezieht sich auf Frauen in Chefetagen sowie beispielsweise auf Männer in Pflege- und Primarlehrberufe.

Dann möchte ich noch ein Thema ansprechen, dass mich beschäftigt, zurzeit aber nicht oder noch nicht stark Diskussion der Öffentlichkeit ist. Eine Dynamik in der Schweiz hat zur Folge, dass tausende studierte junge Menschen auf den Arbeitsmarkt geschwemmt werden. Handwerkerberufe sind nicht mehr sehr attraktiv und es gibt immer weniger Jugendliche, die eine Berufslehre absolvieren. Wohin führt uns das? Ist es sinnvoll weiterhin so stark für die Uni, die FH zu werben? Oder sollten den Jungen nicht auch wieder die Vorteile einer Berufs-lehre nahegelegt werden? Soll das eine Modell gegen das andere ausgespielt werden? Nein, natürlich nicht. Unser duales Berufssystem hat sich sehr positiv entwickelt: Nach einer Lehre stehen alle Türen offen – die Berufsmatur kann gemacht werden, mit Passerelle-Angeboten kann noch studiert werden. Die Akademisierung der Pflege beispielsweise hat auch zu höhe-ren Löhnen geführt, was nicht zu verachten ist. Lassen wir die Jugendlichen ihren persönlich richtigen Weg wählen und unterstützen wir sie in ihren Bemühungen. Sie brauchen Zeit für ihren Berufs- und Lebensweg und um sich zu entwickeln. Nichts ist verloren mit einer zusätz-lichen Schlaufe nach der Grundausbildung – im Gegenteil. Herausforderungen sind da um gemeistert zu werden und sie stärken die eigene Persönlichkeit.

Kommen wir zurück zu den heutigen Hauptthemen: Faire Löhne und Rentensicherheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lohndifferenz zwischen Mann und Frau beträgt noch immer 18,4 Prozent, wie der Equal Pay Day vom letzten 7. März und der Internationale Frau-entag 2013 gezeigt haben. Das Erreichen der Lohngleichheit würde beim angeschlagenen Tempo noch 91 Jahre dauern. Lohngleichheit ist aber ein Verfassungs- und Gesetzesauftrag. Wenn jedoch für deren Umsetzung keine griffigen Mittel und genügend Ressourcen zur Ver-fügung stehen, bleiben die Lohngleichheit und damit der Verfassungsauftrag ein Instrument der Freiwilligkeit.
Genossinnen und Genossen, die Lohngleichheit ist ein strategisch wichtiger Pfeiler in jeder Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Damit ist die Lohngleichheit auch Bestandteil jeder Diskussion über die Altersvorsorge. Denn diese hängt in der Schweiz vom Lohn ab. Deshalb ist es wichtig, dass die Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen setzt und deren Umsetzung auch verbindlich überprüft.

Ich fasse kurz die für mich wichtigsten Punkte zusammen, zum heutigen 1. Mai.

  • Bezahlte Arbeit und unbezahlte Betreuungsarbeit sind für alle kombinierbar! Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Betreuung von Kindern und anderen Familienangehörigen, muss für Frauen und Männer gleichermassen möglich sein. Dazu braucht es einen bezahlten Elternurlaub und Kinderbetreuungsplätze – bezahlbar für alle Einkommensschichten – ab Babyalter bis zur vollendeten Mittelstufe. Es braucht Rahmenbedingungen für alternative Arbeitszeitmodelle für Frauen und Männer in einer Betreuungsphase.
  • Zudem braucht es existenzsichernde Löhne und Lohngleichheit.
  • Damit die Gesellschaft weitere Modelle für die soziale und berufliche Sicherheit erarbeiten kann, braucht es sichere Arbeitsplätze und einen stabilen Arbeitsmarkt. Dazu gehören Mindestlöhne, die auch eine Existenz einer alleinerziehenden Mutter sichern können. Dazu gehören geregelte Arbeitszeiten, die das maximale Tagespensum nicht überschreiten. Auch dies ist essentiell, wenn neue Arbeits- und Betreuungsmodelle funktionieren sollen in der Gesellschaft. Nur so kann auch die soziale Sicherheit, resp. die Rentensituation von Frauen gestärkt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen – wir haben noch viel zu tun – bleiben wir dran!

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