Die grossen politischen Auseinandersetzungen sind lanciert

Referat von Leyla Gül, Co-Generalsekretärin der SP Schweiz

Referat von Leyla Gül, Co-Generalsekretärin der SP Schweiz
Ich war kürzlich mit meinen beiden Buben an einem Geburtstagsfest. Die Stimmung war fröhlich; die Kinder rannten ausgelassen herum und spielten. Als der Vater des Geburtstagskindes die Torte hereintrug, versammelten sich alle um den gedeckten Tisch und stimmten das Geburtstagslied an. Das Teilen des Kuchens war ein feierlicher Augenblick. Für alle Kinder und Erwachsenen war absolut selbstverständlich, dass alle ein Kuchenstück erhalten und die Kinder wachten sehr genau darüber, dass auch alle Stücke gleich gross waren.

Diese Selbstverständlichkeit – das Teilen in gleich grosse Stücke – ist in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Wir schauen zu, wie der Kuchen in grosse und kleine Stücke zerschnitten wird und wie die Grossen die grossen Stücke erhalten und die Kleinen die kleinen Stücke. Und wir schauen zu, wie die restlichen Krümel vom Tellerrand gewischt und an die Ärmsten der Armen verteilt werden.

Es stört mich, dass Ungerechtigkeit und Ungleichheit heute als etwas Natürliches und Unveränderliches gilt. Und wenn es jemand wagt, dieses Prinzip in Frage zu stellen, wird ihm oder ihr vorgeworfen, das sei Neid. Das stört mich gleich nochmals.

Jede Studie über die Reichtumsverteilung in der Schweiz kommt zum gleichen Schluss:

Erstens hat sich die Lohnschere in der Schweiz in den letzten 10 Jahren immer weiter geöffnet. Am wenigsten zugelegt haben wie mittleren Einkommen. Deutlich gewonnen haben gleichzeitig die hohen Saläre. Die Kader verdienen heute bis zu 28 Prozent mehr, während die Löhne aller anderen Angestellten nur zwischen 2 und 5 Prozent gestiegen sind.

Zweitens ist die Steuerpolitik der Schweiz eine Politik für die Reichen. Von sämtlichen Steuerreformen in den letzten Jahren haben die Reichen in der Schweiz überdurchschnittlich profitiert. Auf der anderen Seite haben einzelne mittelständische Haushalte heute weniger als vor 10 Jahren, weil steigende Gebühren und Krankenkassenprämien ihre bescheidenen Lohnerhöhungen wieder weggefressen haben.

Mit anderen Worten: Wer viel hat, dem wird noch mehr gegeben. So viel, dass die reichsten 3 Prozent der Schweiz heute so viel besitzen wie die gesamte übrige Bevölkerung zusammen.

Und es soll noch weiter gehen. Mit der Bankgeheimnisinitiative wollen die Bürgerlichen das Bankgeheimnis in der Verfassung festschreiben, die Steuerhinterziehung damit in Stein meisseln und zum geltenden Recht erklären. Geld und Vermögen – nirgends besser geschützt als in der Schweiz – sollen noch stärker abgesichert werden. Geld soll besser geschützt werden als die Rechte der Arbeitnehmenden, als die Rechte der Rentnerinnen und Rentner, der Lehrlinge, der Asylsuchenden, der Frauen – besser geschützt als die Mehrheit der Menschen in unserem Land.

Die Schweiz ist heute so reich wie noch nie. Und trotzdem garantiert nicht einmal mehr eine Berufslehre einen Lohn von 4000 Franken. Deshalb kämpft die Linke an diesem 1. Mai für ihre ureigenen Anliegen: bessere Löhne, höhere Renten. Gerade heute, gerade jetzt, lohnt sich dieser Kampf. Denn wir haben zwei grosse Chancen:

Erstens: Die Managerlöhne sind erst in den letzten 20 Jahren regelrecht explodiert. 1984 betrug das Verhältnis zwischen höchstem Lohn zum Durchschnittslohn 1:6. 2011 bereits 1:93. Das heisst: Das Phänomen ist weder neu noch ist es vom Himmel gefallen. Es ist gewollt, es ist politisch gesteuert und wir können es auch wieder stoppen. Wir können es umkehren. Alles, was wir brauchen, sind politische Mehrheiten.

Zweitens: Wir haben gute Antworten und gute Projekte; wir haben wirksame Vorschläge. Die AHVplus-Initiative verlangt 10 Prozent mehr für alle AHV-Renten und will damit den Rentnerinnen und Rentnern ein Leben in Würde gewähren. Oder die 1:12-Initiative: Sie will die Saläre eines kleinen Kreises von Managern begrenzen. Und schliesslich will die Mindestlohn-Initiative sicherstellen, dass niemand in der Schweiz weniger als 4000 Franken verdient.

Das sind kleine Schritte auf dem Weg zu einer besseren und gerechteren Gesellschaft. Lassen wir uns nicht einreden, das gehe nicht. Lassen wir uns nicht weismachen, dass es den Menschen in unserem Land schlechter gehen würde, wenn man die obersten Löhne begrenzt. Dass es seine Richtigkeit habe, wenn der Chef der Firma 238 Mal mehr verdient als der einfache Angestellte.

Ich bin nicht immer und überall für Regulierungen, aber hier bin ich es aus tiefster Überzeugung: Die Wirtschaft muss endlich wieder im Dienst des Menschen stehen und nicht umgekehrt. Wir brauchen eine Umverteilung von oben nach unten.

Ihr erinnert euch an Vasella und dessen Abgangseskapade. Das eigentlich Anstossende an dieser Geschichte waren nicht die 70 Millionen, die der CEO fürs Nichtstun hätte bekommen sollen. Das Schlimme war, dass er – mit der Höhe des Betrags konfrontiert – sagte, dass er einen grossen Teil der Summe an gemeinnützige Organisationen spenden werde. Die Tatsache, dass er allen Ernstes glaubte, dass er das Abzocken damit legitimieren könne. Diese Haltung, diese Arroganz ist ein Rückfall ins Ancien Regime. In eine Zeit ohne demokratischen Staat, ohne Sozialwerke, ohne Solidarität. In eine Zeit, wo die Brosamen der Reichen die Armen vor dem Verhungern retteten. Und wenn die Spenden ausblieben, dann verhungerte man halt.

Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass ich nicht die einzige war, die sich empörte, sondern für einmal zur Mehrheit gehörte. Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass die Abzocker-Initiative angenommen wurde. Und ich freue mich auf unsere nächsten Projekte. Wir haben jetzt die Chance, mehr Verteilungsgerechtigkeit herbeizuführen und Stück für Stück zu ändern, was aus dem Ruder gelaufen ist.

Liebe Genossinnen und Genossen. Die grossen politischen Auseinandersetzungen sind lanciert. Unsere Mobilisierung und unser Engagement werden darüber entscheiden, ob wir unsere Anliegen durchsetzen können. Ich kämpfe mit euch dafür, dass wir wieder beginnen, den Kuchen zu verteilen. Ich kämpfe dafür, dass wir nicht vom Goodwill und der Nettigkeit der Reichen abhängig sind, sondern dass wir, selbstbewusst und nötigenfalls auch wütend, für Gerechtigkeit sorgen. Dass diese Gerechtigkeit wieder zur Selbstverständlichkeit wird.

Es lebe der 1. Mai!

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