Das ist die älteste Einladung zu einem 1. August, die ich je hatte. Sie ist inzwischen zweieinhalb Jahre alt. Wessen Planung wurde durch Corona nicht schwer durchgeschüttelt? Ich habe mich sehr über diese Einladung gefreut, auch wenn sie ganz ehrlich für mich nicht ganz einfach ist, ich komme darauf noch zurück. Vor allem aber habe ich mich gefreut, überhaupt wieder richtig einen 1. August feiern zu können, ohne Masken und Abstand, ohne Krise. Und dann kommt dieser Krieg von Wladimir Putin in der Ukraine. Und wieder weiss man nicht so recht, über was man sich freuen soll. Ein Krieg, der in meiner persönlichen Biografie direkt mit Boswil verbunden ist. Damals vor 20 Jahren habe ich hier gelebt und bin in Wohlen in die Kantonsschule. Wir haben dann einen Schülerinnenaustausch gemacht mit einer Klasse aus Ternopil, zwei Autostunden von Lwiw entfernt in der Westukraine. Damals habe ich Oleksi kennen gelernt, Alex wie wir ihn genannt haben. Die Ukrainer waren nachher hier, Alex hat an der Bachstrasse mit uns eine Woche gewohnt. Wir hatten lange Kontakt, dann wie das Leben so spielt, haben wir uns aus den Augen verloren. Ich habe ihn dank dem Internet kurz nach Ausbruch des Krieges gefunden. Seither bekomme ich den Krieg per WhatsApp direkt mit. Alex ist fast gleich alt wie ich. Er ist verheiratet mit Olena, sie haben zwei Kinder im gleichen Alter wie unsere, Luka und Lavrin, 4 und 8. Ich würde nie behaupten, dass das vergleichbar ist mit dem Horror, den Menschen jetzt erleben, die Familie haben in der Ukraine oder selber sogar flüchten mussten. Aber diese Videos von den verängstigten Kindern, die bei dem Fliegeralarm in den Bunker rennen müssen, das macht etwas mit einem. Man fühlt sich ohnmächtig und hilflos. Das ist irgendwie ein Gefühl, dass sich in den letzten Jahren wiederholt. Krieg in der Ukraine, davor Covid, Migrationskrise, Finanzkrise, Klimakrise. Ich weiss nicht, wie es ihnen geht, aber manchmal frage ich mich in diesen Zeiten schon, was das eigentlich für eine Welt ist, in der wir heute Leben und wie wir dafür sorgen, dass die Freiheit, die wir heute in diesem Land nach wie vor geniessen, auch für unsere Kinder erhalten bleibt.
Etwa damals als Alex bei uns war habe ich auch angefangen mich politisch zu engagieren. Ich bin gross geworden in einem politischen Zeitgeist, in dem das Wort „Eigenverantwortung“ so etwas wie eine heilige Kuh war. Nirgends mehr sollte sich der Staat einmischen, so die Idee, jeder und jede sollte sich um alles selbst kümmern, von der Kinderbetreuung bis zur Rentensicherung. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde die Idee der Eigenverantwortung grossartig. Wir sollten alle selbst entscheiden dürfen, wie wir unser Leben leben und dafür Verantwortung übernehmen können, solang das die Freiheit unserer Mitmenschen nicht beschneidet. Ich bin der absolut festen Überzeugung, dass kein Kaiser wie im Mittelalter, kein Papst, keine Regierung, keine falsche Moral uns vorzuschreiben haben, wie wir unsere Kinder erziehen, mit wem wir unser Leben verbringen, was wir tun und lassen sollen. Was das bedeutet, wenn diese rote Linie überschritten wird, das zeigt leider die Geschichte dieses Kontinents im 20. Jahrhundert in Ost und West nur zu gut. Und gerade deshalb meine ich sollten wir uns entschieden wehren, wenn jetzt ein paar Radikale hier und nicht irgendwo auf der Welt den Frauen wieder Vorschriften machen wollen, wann sie über ihren Körper und eine Abtreibung selbst entscheiden dürfen.
Eigenverantwortung und individuelle Freiheit sind ganz zentral für das Modell der liberlane Gesellschaften, keine Frage. Aber Eigenverantwortung ist weder ein Konzept gegen die Krisen der Welt noch gegen Schicksalsschläge. Das haben die letzten Jahre eindrücklich gezeigt. Niemand kann eigenverantwortlich etwas gegen Krieg unternehmen. Sie können spenden, soviel sie wollen, das alleine wird keinen Frieden bringen, wenn es die Mächtigen nicht anders wollen. Niemand kann allein den Klimawandel bekämpfen. Sie können noch so oft auf das Fliegen verzichten, sie können aufhören Fleisch zu essen und so wunderbar nachhaltig leben, wie sie wollen. Aber wenn die Erdölindustrie sich – sorry – weiter einen Dreck schert um die Zukunft des Planeten, dann wird ihre ganze Anstrengung nicht reichen. Wenn die Pandemie dazu führt, dass Menschen sterben, wenn die Wirtschaftskrise daraus tausende ihre Arbeit kostet oder sie ihr KMU verlieren, dann können wir sie nicht einfach sich selbst überlassen. Mein Vater hat schon vor Covid, mit 62 seine letzte Arbeitsstelle verloren. Das hat ihm am Anfang nicht viel ausgemacht, er war überzeugt, dass der Arbeitsmarkt seine fast 50 Jahre Berufserfahrung zu schätzen wissen wird. Es war nicht so. Er war vielen Arbeitgebern zu alt, zu teuer. Die Gesellschaft schien ihn abgestellt zu haben auf dem falschen Gleis, aussortiert. Diese Erfahrung machen heute viele, zu viele. Wenn sie keine Stelle mehr finden, wenn die Rent nach einem Arbeitsleben nicht reicht, wenn trotz voller Arbeit der Lohn von den Krankenkassenprämien und Mieten aufgefressen wird. Das trifft die Menschen in ihrer Würde. Es macht unglaublich wütend. Wütend, weil der eigenen Lebensleistung mit krasser Respektlosigkeit begegnet wird – in einer Gesellschaft, der es so viele Millionäre gibt, in der die grossen Konzerne so grosse Gewinne schreiben wie noch nie in der Geschichte. Und ehrlich gesagt ist es genau das, was mich an der Arbeit in Bundesbern am meisten aufregt. Man kann jede Meinung vertreten, das gehört zur Demokratie. Aber was mich wirklich aufregt, sind jene, die ausgestattet mit dem dicken Portemonnaie der Lobbyverbände die von Eigenverantwortung schwafeln und auf alle runterschauen, die keine Villa mit Swimming Pool haben aber dann immer die ersten sind, von den Banken in der Finanzkrise, die Fluggesellschaften bei Covid oder jetzt die Stromkonzerne die die hohle Hand machen beim Staat. Und wenn sie dann nach den Sommerferien wieder an die Urnen gehen, überlegen Sie sich doch bitte kurz ob es wirklich sein muss, dass das erste was wir jetzt nach Covid und mitten in der Krise nach dem Krieg tun wirklich ist, die Mehrwertsteuer für alle zu erhöhen, weniger Renten an Frauen zu zahlen und gleichzeitig hunderte Millionen an neuen Steuergeschenken genau für diese Grosskonzerne aus dem Fenster zu werfen. Es ist genau diese schamlose Bereicherung der wenigen auf Kosten aller, die die Solidarität in diesem Land kaputt macht. Das sollten wir nicht zulassen.
Menschen sich selbst zu überlassen, wenn sie von gesellschaftlichen Krisen getroffen werden, von Krieg, von der Pandemie, vom Klimawandel, von Arbeitslosigkeit, von Armut ist keine zukunftsweisende Strategie für unsere Gesellschaft. Ich glaube wir brauchen als Lehre aus den letzten Jahren eine neue Balance. Eine gesündere Balance zwischen Eigenverantwortung und gemeinsamer, gesellschaftlicher Verantwortung, sprich Solidarität. Und ja, für letztere brauchen wir den Staat, den viele so gerne so schlecht werden. Wir brauchen ihn, wenn er die Gesellschaft vor dem Kollaps bewahrt, nach dem die Finanzspekulanten die Weltwirtschaft an den Abgrund gebracht haben. Wir brauchen ihn, wenn er das Gesundheitssystem aufrechterhält, dass uns vor dem Massensterben in einer Pandemie schützt. Wir brauchen ihn, wenn er im Interesse unserer Kinder und Enkel den Klimaschutz auch gegen die egoistischen Profitinteressen der Grosskonzerne durchsetzt. Und wir werden ihn in den nächsten Jahren noch mehr brauchen, um unsere Freiheit zu schützen, gerade jener, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Vor vielen Menschen auch in diesem Land stehen vielleicht schwierige Zeiten. Die Preise werden steigen, die Krankenkassenprämien dürften massiv nach oben gehen, die Wirtschaftskrise steht vor der Türe, die teurere Energie, Benzin und Strom sowieso. Ich bin persönlich tief überzeugt, dass wir als Schweiz die Herausforderungen, die vor uns stehen meistern können. Auch die grossen, wie der Klimawandel oder die Folgen des Krieges. Die Schweiz hat in ihrer Geschichte immer wieder bewiesen, dass sie das kann: Dieses Land hat 1848 nach einem schmerzhaften Bürgerkrieg die erste moderne Verfassung Europas eingeführt, um die Jahrhundertwende die SBB gegründet, die Post aufgebaut, nach dem zweiten Weltkrieg die AHV und die Invalidenversicherung, das Netz der Autobahnen, die Wasserversorgung, die Bildungslandschaft, das Gesundheitswesen, neustens die NEAT. Und das Land beweist jetzt mit der Aufnahme der Flüchtlinge aus der Ukraine wieder, dass es Solidarität kann.
Die Menschen in diesem Land waren und sind bereit, Verantwortung für ihre Gesellschaft zu übernehmen und zu tragen. Aber es gab dafür eine zwingende Bedingung. Eine Bedingung, die zum 1. August passt wie die Faust aufs Auge: Wir müssen dafür sorgen, dass niemand zurückgelassen wird, niemand in unserer Gesellschaft durch die Maschen fällt. Dass alle, ob sie Handwerker sind oder Professorin, Pöstler oder Bürolistin, Hausfrau, Flüchtling oder Rentner mit dem Respekt behandelt werden, der ihnen gebührt. Dass sie mit dem Lohn ihrer Arbeit eine Familie gut durchbringen, dass sie von der Rente würdig leben können, dass sie keine Angst haben müssen vor steigenden Prämien, vor Energieknappheit oder Stellenverlust. Und ja, das heisst, dass jene, die es können halt etwas mehr werden beitragen müssen. So viel sollte uns die Schweiz wert sein.
— nur Boswil —
Wäre die Beziehung zwischen Bosmel und mir eine Facebook-Freundschaft, wäre der Status wohl „es ist kompliziert“. Ich bin mit meinen Eltern und meinem Bruder hiergekommen als ich sechs oder sieben Jahre alt war, in der ersten Klasse. Und ich durfte hier das erleben, was man gemeinhin so eine glückliche Kindheit nett. Jedes Mal, wenn ich hier bin, sehe ich die Bilder an mir vorbei ziehen. Vom Märlitelefon in der Raiffeisenbank, von der Fasnacht im Löwen, vom Rollhockey spielen auf dem Pausenplatz, vom Grümpeliturnier, vom grossen Unwetter, das unseren Keller füllte, vom Schlitteln am Niesenberg, vom Paninibildchen kaufen im Fischerbeck an der Mühlegasse, vom Nielen rauchen am Weissenbach, vom Bier trinken auf dem Vorsprung der alten Kirche, vom Ski mieten im Stöcklisport. Von meinen Schulfreundinen und -freunden, vom Patrick, vom Stefan, vom Wanja, Agim, Dejan, Ruben, Sandro, Roman, Sabrina, Claudia, Nadine, Rebekka, Anja, Manuela… Es sind aber und das wissen wahrscheinlich fast alle hier, nicht die einzigen Bilder, die ich mit Boswil verbinde. Leider. Es ist auch der Ort, an dem meine Mutter, Laurence Wermuth, fünfzehn lange Jahre von lange von einer heftigen, psychischen Krankheit heimgesucht wurde. Ein Höllenritt, den sie am 20. Mai 2014, hier am Bahnhof Boswil-Bünzen mit ihrem Leben bezahlt hat. Es war nicht der erste Suizidversuch, im Gegenteil. Ich weiss nicht, ob sie sich vorstellen können, was eine solche Krankheit mit Menschen macht, was sie mit ihrem Umfeld, ihrer Familie macht. Meine Mutter war einer der liebenswürdigsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Und ich weiss, dass viele von euch sie auch so erlebt haben und bis zum Schluss sie begleitet und mir ihr befreundet waren. Dafür gebührt ihnen mein Dank. Meine Mutter kann nichts dafür, aber ihre Krankheit war einer der Hauptgründe, warum ich als junger Mensch hier so schnell wie möglich wegwollte. Ich habe dieses Dorf für das, was wir hier erlebt habe verurteilt und verantwortlich gemacht. Zu Unrecht, wie mir heute klar ist. Ich weiss, dass ich einige Menschen, die meine Freunde waren, Freunde der Familie, verletzt und aufgebracht habe, weil ich nie mehr zurückgekommen bin, durch die Art, wie ich über meine Kindheit hier öffentlich gesprochen habe. Das tut mir heute leid. Ich habe mich wahnsinnig gefreut, als diese Einladung gekommen ist, von Michael, übrigens mein ehemaliger Nachbar. Und ich möchte diese Chance heute nutzen. Ich möchte mich für jede unfaire Aussage über Bosmel entschuldigen. Und weil man nie mit leeren Händen zurückkommt, habe ich ihnen natürlich etwas mitgebracht. Ich habe im nächsten Frühling und im Sommer je ein paar Plätze für einen Besuch im Bundeshaus in Bern für die Bevölkerung von Boswil reserviert und es wäre mir eine Ehre, wenn wir diese Einladung vielleicht Hilfe des Gemeinderates streuen könnten. Ich bin Bosmeler und ich bin heute stolz darauf.