«Jetzt ist Schulz» steht auf dem Plakat am Eingang zum ausserordentlichen Parteitag in Berlin, wo die SPD am Sonntag ihren neuen Vorsitzenden gewählt hat. Auf 605 gültigen Wahlzetteln erhält der neue Parteichef mit allen 605 Stimmen eine 100,0-prozentige Zustimmung. Die Wahl zum Kanzlerkandidaten folgt durch Akklamation. Ein historisch einmaliger Erfolg, der nicht einmal Willy Brand vergönnt war.
Es ist die Erlösung der Partei und Sankt Martin ihr Erlöser. Schulz kann Kanzler werden.
Das Resultat steht nicht nur für die Aufbruchsstimmung und Begeisterung, die die SPD seit Januar erfasst haben. Es ist die Erlösung der Partei und Sankt Martin ihr Erlöser. Schulz kann Kanzler werden. Machtwechsel ist möglich. In letzten Umfragen hat er Merkel wieder überholt. Gewinnt er so die Wahlen, könnte er mit den Grünen und der Linken regieren oder theoretisch sogar eine Grosse Koalition mit umgekehrten Rollen anführen. Und selbst die Oppositionsrolle wäre besser, als Juniorpartner in Merkels Regierung zu bleiben. Das alles wird auch deshalb möglich, weil Schulz die Umfragewerte der rechtspopulistischen AfD auf zum Teil unter zehn Prozent gedrückt hat.
Alles zu schön, um wahr zu sein? Lange Zeit dümpelte die Partei bei Umfragewerten von kaum viel mehr als 20 Prozent herum, ohne ihre erfolgreiche Politik in der Grossen Koalition in wachsenden Zuspruch ummünzen zu können.
Der Erfolg von Martin Schulz hat wenig mit seinen Argumenten und vagen Absichten zu tun, wenig mit politischer Rationalität. Der Aufbruch beruht auf Gefühlen, Hoffnungen und Projektionen in einem historischen Moment, in dem sich plötzlich viele Faktoren zu einer für die SPD idealen Ausgangslage für die Bundestagswahlen vom Herbst zusammenfinden. Heute herrscht Wechselstimmung im Land. Es dauert aber noch sechs Monate, bis dann kann noch viel passieren. Das Wahlprogramm der SPD steht erst im Juni zur Debatte.
Schulz ist glaubwürdig, ein Kanzlerkandidat zum Anfassen. Er bedient seine Biographie, um mit seinen Niederlagen zu beweisen, dass er ein normaler Mensch sei. Er musste die Schule verlassen, scheiterte als Fussballer und landete im Alkoholismus. Dann wird er Buchhändler und Lokalpolitiker in Würselen an der Grenze zu Holland und Belgien. Würselen klingt wie Güllen, wo Dürrenmatts Alte Dame die Notbremse im Rasenden Roland zieht, um in ihrem alten Heimatdorf auszusteigen. In Würselen war Schulz elf Jahre Bürgermeister und dort habe er sich der persönlichen Probleme der Menschen angenommen. Von dort erfolgte der Aufstieg in die europäische Politik, ins Europaparlament, das er in den letzten fünf Jahren präsidierte. «London, New York, Paris, Würselen» – seine Weltläufigkeit auf dem T-Shirt seiner Fans.
Schulz will den Einzelnen ernst nehmen, ihm beweisen, dass die Politik sich um ihn kümmert.
Er hält eine emotionale Rede. Ich halte nichts von politischer Gefühlsduselei, aber auch mir kommen Tränen in der Aufbruchsstimmung, die er im Saal zu mobilisieren versteht. Schulz will den Einzelnen ernst nehmen, ihm beweisen, dass die Politik sich um ihn kümmert, «nur so können wir das Vertrauen in die Demokratie stärken, so können wir die Wahlen gewinnen». Und dann sein Bemühen um die Frauenstimmen, die er dringend benötigt: Gleichstellung, Familienarbeitszeit und rechtlich garantierter Krippenplatz und Tagesschule – 53 Prozent der Frauen unterstützen Angela Merkel, ihn nur 28 Prozent. Bei den Männern liegt er immerhin neun Prozent vor der Kanzlerin.
Schulz der Europäer. Ich dachte, das wäre sein Handicap. Die EU ist in der Krise. Doch Schulz zieht mit der blauen Fahne erfolgreich in den Wahlkampf. Europa sei Verfassungsauftrag. Er bedient damit ein Ideal, das in der deutschen Öffentlichkeit gegen Brexit und Trump plötzlich erstarkt ist, ein Ideal, das vor allem in der SPD an einer Tradition anknüpft, die ihr heute gegen den Rechtspopulismus neuen Zulauf verschafft: Europa als Friedensprojekt.
Vor allem aber kann Schulz als Europäer erfolgreich in die deutsche Politik zurückkehren, ohne sich im nationalen Geschäft die Hände schmutzig gemacht zu haben. Hier hat er wenige Feinde. Retter kommen immer von aussen.
Sigmar Gabriel schaffte, was wenige Politiker können: den Abgang in Ehren zum richtigen Zeitpunkt.
Hinter diesem Erfolg steht Sigmar Gabriel, der im Januar überraschend auf Parteipräsidium und Kandidatur verzichtete und sich selbst zum Messdiener degradierte, um Schulz den Weg freizugeben. Gabriel wusste, dass er mit seinen 74 Prozent Zustimmung am letzten Parteitag den Aufbruch nicht schafft. Aber er schaffte, was wenige Politiker können: den Abgang in Ehren zum richtigen Zeitpunkt. Er hielt die bessere Rede als Schulz.
Nach Brexit und der Wahl von Trump glaubte ich an einen welthistorischen Umbruch, ein 1989 mit umgekehrten Vorzeichen: an den Niedergang der Aufklärung, an einen unaufhaltsamen Rechtspopulismus, an den langsamen Zerfall Europas als Wertegemeinschaft. Seit Sonntag bin ich wieder optimistischer: Ein sich reformierendes Europa um die Achse Berlin-Paris unter Schulz und Macron ist zur Option geworden.