Die Lohnschere öffnet sich stets weiter – jetzt braucht es erst recht Mindestlöhne

Edith Graf-Litscher, Nationalrätin TG

Edith Graf-Litscher, Nationalrätin TG
Rede zum 1. Mai 2014 in Arbon (TG)

Heute darf ich das erste Mal als Präsidentin des Thurgauer Gewerkschaftsbundes zu euch sprechen. In zwei Wochen darf ich meinen ersten Geburtstag in dieser spannenden Aufgabe feiern. Für die wertvolle Unterstützung, die ich vom Vorstand und vor allem von unserer Arbeitersekretärin Rita Kägi spüre, bedanke ich mich herzlich bei euch. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können sich auf den SEV, die Syndicom, die unia und den vpod verlassen und diese engagieren sich auch bei uns im Vorstand des TGGB.

Wenn es um die gegenseitige Unterstützung geht, haben wir letztes Jahr auch den Beweis erbracht, dass wir zusammen gewaltig mobilisieren können:

Am 3. September 2013 erlebte Frauenfeld einen geschichtsträchtigen Aufmarsch. Mehr als 1200 Personen demonstrierten gegen die Verschlechterungen  ihrer Pensionskasse. Fast gleichzeitig kündigten mehrere Betriebe im Kanton Thurgau an, ihre Werke zu schliessen. Gegen 500 Arbeitsplätze sind betroffen. Dank dem grossen Engagement der unia und der Personalkommission blieben bei der Firma Müller Martini in Felben-Wellhausen einige Arbeitsplätze erhalten. Ein weiterer gewerkschaftlicher Erfolg ist, dass die älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besondere Schutzbedingungen erhalten wie längere Kündigungsfristen oder gar eine Arbeitsplatzgarantie.

Die Angestellten des Bauausrüsters AFG Arbonia-Forster sind stark verunsichert. Die Aktionäre verpassten dem Verwaltungsrat einen Denkzettel: Gerade mal 52,79 Prozent der Aktionäre entlasteten den Verwaltungsrat. Ein grosser Teil der Aktionäre ist offensichtlich  unzufrieden mit der Unternehmensführung. Auch der Abgang Frutigs irritiert weiterhin. Nachdem in der Produktion viele Stellen weggefallen sind, haben auch die Mitarbeitenden im administrativen Bereich Angst um ihren Job. Auch hier in Arbon setzen die Gewerkschaften alles daran, sozialverträgliche Lösungen zu verhandeln.   

Den 1. Mai feiern wir in diesem Jahr bereits zum 124. Mal. Er ist der einzige Feiertag, der auf der ganzen Welt, in allen Kulturen, verbreitet ist. Die Themen, die den 1. Mai prägen, sind nach wie vor aktuell. Immer noch sind auch bei uns im Thurgau Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, anständige Löhne,  gute Arbeitsbedingungen und Gesundheit am Arbeitsplatz nicht selbstverständlich. Das belegt auch die neuste Lohnstrukturerhebung des Bundes. In der Privatwirtschaft sind zwischen 2010 und 2012 die Löhne um 3,2 Prozent auf 6118 Franken im Durchschnitt gestiegen. Das tönt ja eigentlich erfreulich. Der Haken ist nur, dass der Kuchen nicht für alle grösser geworden ist.

Der um die Kaufkraft bereinigte Reallohn sank in den letzten beiden Jahren. Das ist schockierend. Bisher gelang es immerhin, dass die tiefsten mit den mittleren Löhnen Schritt halten konnten. Nun sind die untersten 10 Prozent erstmals abgehängt worden.

Ganz anders sieht es am anderen Ende der Lohnskala aus: Jene 10 Prozent Arbeitnehmende, die am besten bezahlt wurden, verdienten 2012 über 11’512 Franken oder 22,5 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Allein in den letzten beiden Jahren konnten sie von einer Reallohnerhöhung von 7,1 Prozent profitieren, was nahezu 10’000 Franken im Jahr ausmacht.

Eine weitere Realität ist: Der  Unterschied zwischen den höchsten und den tiefsten Löhnen ist vom Faktor 2,6 auf den Faktor 3 gestiegen.

Zu den Verlierern gehören die z.B. die Arbeitnehmenden im Detailhandel und in der Reinigung. Betroffen sind vor allem Frauen: Über zwei Drittel der Angestellten mit einem Tieflohn sind weiblich.

Gut geht es insbesondere den Topkadern: Der Mittelwert für die am besten verdienenden Bankmanager betrug 2012 über 52’000 Franken pro Monat. Diese Zahlen liefern die Fakten für unsere Mindestlohn-Initiative. Vor allem wenn dann noch der Arbeitgeber-Direktor Roland Müller im Interview mit der Tagesschau sagt, die Detailhandelsangestellten seinen sonst arbeitslos und müssten also dankbar sein, dass sie zu Hungerlöhnen den ganzen Tag arbeiten dürfen.  

Für eine sozialere Schweiz kämpfen wir auch in anderen Feldern

Wir müssen Menschen schützen – und sie gegen Abbaupläne bei der Altersvorsorge verteidigen. Die AHV-Renten hinken immer mehr den Löhnen hinterher und die Leistungen der zweiten Säule stehen unter Druck. Die Renteneinkommen aus erster und zweiter Säule sind deshalb für viele Menschen zu gering. Ohne Gegenmassnahmen wird sich das Problem für künftige Rentnerinnen und Rentner noch verschärfen. Das Projekt „Altersvorsorge 2020“ will die Leistungen der AHV gar noch verschlechtern: Mit einem höheren Rentenalter für Frauen oder indem der Teuerungsausgleich in Frage gestellt wird. Da halten wir dagegen: Die Initiative AHVplus soll unser wichtigstes Sozialwerk stärken. Die AHV-Renten wollen wir um 10 Prozent erhöhen. Denn die AHV ist die sicherste, effizienteste und sozialste Altersvorsorge der Schweiz. Deshalb ist die Stärkung der ersten Säule für Versicherte mit tiefen und mittleren Einkommen viel effizienter und kostengünstiger als das private Sparen, wo die Banken und Versicherungen mitverdienen.

Wir müssen Menschen schützen – und nicht den blanken Profit. Deshalb ist auch ein besserer Schutz am Arbeitsplatz nötig. Stress ist abzubauen. Die wichtigsten Instrumente dagegen – etwa die Arbeitszeiterfassung – müssen endlich durchgesetzt werden. Denn Arbeitszeit und Freizeit sollen sich nicht uneingeschränkt vermischen. Sonst greifen Burnouts, Depressionen und andere Stress-Erkrankungen noch weiter um sich.

Wir müssen Menschen schützen – und nicht die nationalen Grenzzäune.

Ein Ja zur Mindestlohn-Initiative wird auch den Kampf gegen die Lohndiskriminierung der Frau vorwärtsbringen. Ein Ja zur Mindestlohn-Initiative bremst Auslagerung und Prekarisierung. Dieses Ja müssen wir mit einem entschiedenen Schlussspurt erkämpfen. Damit legen wir den Grundstein für eine soziale Wende.

Ich bin stolz, dass ich eure Nationalrätin sein darf und seit fast einem Jahr auch eure TGGB Präsidentin. Ich danke euch herzlich für euer Vertrauen

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