Anfangs Jahr habe ich mir kurz überlegt, auszuwandern. Für mich und sicherlich auch für viele von euch war das Abstimmungsergebnis am 9. Februar ein Schock: Dass über die Hälfte aller Schweizerinnen und Schweizer, zumindest derjenigen, welche abstimmten, die Masseneinwanderungsinitiative angenommen haben, kam überraschend und hat gezeigt, dass es in der Schweiz noch einige Probleme zu lösen gilt. Ich bin aber davon überzeugt, dass das Resultat der Abstimmung nicht Ausdruck von Ausländerfeindlichkeit war, sondern vielmehr die Skepsis der Bevölkerung gegenüber einem unkontrollierten Wachstum deutlich gemacht hat.
Die Folgen des Wirtschaftswachstums der Schweiz hat in den letzten Jahren Spuren hinterlassen. Nicht nur in den Städten, wo die Wohnungsnot immer mehr zunimmt, sondern in besonderem Masse auch in den Agglomerationen und in den ländlichen Regionen. Hier hat die Angst der Bevölkerung zugenommen, was auch leicht nachvollziehbar ist. Hier, wo Veränderungen noch etwas langsamer von sich gehen, spürt man noch, wenn Quadratmeter um Quadratmeter Bauland verschwindet, Poststellen schliessen und der Dorfladen plötzlich einem Einkaufszentrum weichen muss. Zudem fehlt die konkrete Erfahrung einer multinationalen Gesellschaft – das Fremde macht nur so lange Angst, wie man es als fremd wahrnimmt. Städterinnen und Städter haben öfter die Möglichkeit, positive Erfahrungen mit NeuzuzügerInnen und fremden Kulturen zu machen.
All diese Probleme müssen wir – das heisst alle Politiker und Politikerinnen, die für eine solidarische Schweiz einstehen – ernst nehmen. Wir können diese vielen Stimmen nicht ignorieren und müssen akzeptieren, dass unsere Realität – das heisst die Realität der Politikerinnen und Politiker – nicht immer mit jener des Stimmvolkes überreinstimmt. Wir müssen wieder näher ran an die Stimmung am Stammtisch, an die Meinungen all jener, die unzufrieden sind und sich von uns missverstanden fühlen. Ich möchte deshalb meine Rede all jenen widmen, denen der 1. Mai gebührt: Den Büezern und Büezerinnen.
Der erste Mai ist der einzige Feiertag, der auf der ganzen Welt, in allen Kulturen, verbreitet ist. Auf der ganzen Welt feiert man am 1. Mai die Arbeiterschaft, es ist der internationale Tag der Arbeiterbewegung. 2014 feiern wir den Tag der Arbeit zum 124. Mal. Manchmal verliert man im Wandel der letzten Jahre etwas den Überblick und fragt sich: Wer gehört denn heute in der Schweiz noch zur Arbeiterbewegung, zu den Büezerinnen und Büezern? Das Wort „Büez“ kommt von Chrampf, von Chrampfen – einer anstrengenden oft auch sehr körperlichen Arbeit also. Nur: Wer chrampft denn in der Schweiz? Über 70 Prozent der Schweizer Arbeiterschaft ist im Dienstleistungssektor tätig, das heisst ein Grossteil der Arbeiter und Arbeiterinnen befindet sich heute in einem Büro und vor einem Computer. Sie arbeiten hart und lange, aber nur selten körperlich. Angesichts dieser Tatsache vergisst man schnell, dass es trotzdem immer noch jene gibt, die man ursprünglich als Büezer verstand: Die Bauarbeiter und Coiffeusen, die industriellen Arbeiter und all die Verkäuferinnen an der Migros- oder Coop-Kasse. All jene, die zu Minimallöhnen und unter schlechten Arbeitsbedingungen im Schichtbetrieb dafür sorgen, dass in der Schweiz Einiges voran geht und die Grosses leisten. Das sind die einen Büezer, denen ich meine Rede widme.
Die zweite Gruppe der Büezer muss man korrekterweise eigentlich „Büezerinnen“ nennen, denn diese harte, körperlich anstrengende Arbeit verrichten insbesondere Frauen. In den letzten Wochen kursierte im Internet ein Video, das ein fiktives Bewerbungsgespräch zeigt. Gesucht wird ein geeigneter Kandidat für den Job “Director of Operations”. Der Arbeitgeber in Anzug und Krawatte fragt die Bewerberinnen und Bewerber dabei, ob sie bereit wären zu den folgenden Arbeitsbedingungen zu arbeiten: Man hat nie Urlaub, arbeitet rund um die Uhr, dürfe erst schlafen, wenn auch die Mitarbeiter schlafen. Und anfangs seien Nächte ohne Schlaf völlig normal. Legal seien diese Arbeitsbedingungen aber, sagt der Personalchef – ach und Lohn gäbe es auch keinen. Das Video zeigt die entsetzten Bewerber. So einen Job will doch keiner freiwillig machen. Doch, sagt der Personalberater. Milliarden Menschen täten dies jeden Tag – Mütter. Das Video ist ein Werbeclip eines Grusskartenherstellers. Für den kommenden Muttertag.
Das Video ist humorvoll und charmant gemacht, zeigt aber ein grosses realpolitisches Problem auf: Frauen in der Schweiz leisten pro Woche durchschnittlich 53 Stunden unbezahlte Arbeit. Mit Büezerinnen sind somit auch all jene gemeint, die unbezahlte Betreuungsarbeit leisten: Die Kinder hüten, Essen kochen, Wäsche waschen und Kleider bügeln, die Grossmutter pflegen und dafür sorgen, dass all jene, die sich nicht mehr oder noch nicht selbst versorgen können, Hilfe erhalten. Im europäischen Vergleich wird in der Schweiz ein hoher Anteil der Betreuungs- und Pflegearbeit unbezahlt in den Haushalten geleistet. Die unbezahlte Arbeit beträgt die Hälfte des gesamten Arbeitsvolumens. In drei von vier Familien ist für diese Arbeiten immer noch die Frau allein verantwortlich, immerhin in einem Viertel aller Familien wird die Hausarbeit zwischen Mann und Frau geteilt.
Das wäre an und für sich nicht tragisch. Ich finde es in Ordnung, wenn man zu Hause bleiben möchte und dies freiwillig tut und es einen glücklich macht. Nicht in Ordnung finde ich hingegen die Bedingungen, unter denen Betreuungsarbeit aktuell geleistet werden muss: Im europäischen Vergleich zeigt sich, dass die Schweiz einmalig lange Arbeitszeiten und schlechte Rahmenbedingungen für Personen mit Betreuungspflichten hat. Grund dafür ist das immer noch mangelhafte Angebot für die familienergänzende Kinderbetreuung. Es mangelt an Tagesschulen und Kitas, und jene die es gibt, sind kaum bezahlbar. Damit gibt es für all jene, die ihre Kinder und Angehörigen selbst betreuen und pflegen, kaum Arbeitsrechte: Sie erhalten nur wenig Ferien, keine bezahlte Elternzeit, keine sozialen Absicherungen, keine Spesenvergütung und es gibt auch keine arbeitsrechtlichen Regelungen für pflegende Angehörige. Die Arbeitsbedingungen, die in dem Video mit dem fiktiven Bewerbungsgespräch geschildert werden, sind für viele Mütter und Väter in der Schweiz eine bittere Realität, die sich nicht umgehen lässt.
Teilzeitstellen, die heute zu einem Grossteil von Frauen besetzt werden, haben entscheidende Nachteile: Eine Schlechterstellung bei der Weiterbildung und damit Einbussen beim beruflichen Aufstieg, ein tieferes Einkommen und somit später auch tiefere Renten. Hinzu kommen all jene Faktoren, die ich schon vorhin erwähnt habe. Kein Wunder also, wählen viele Familien immer noch das traditionelle Modell, bei dem ein Elternteil Vollzeit arbeitet und das andere sich hauptberuflich der Familie widmet. Da Männer häufig mehr verdienen als Frauen, ist dann auch schnell klar, wer zu Hause bleibt. Meiner Meinung nach liegt genau hier die Knacknuss für die Gleichstellung in der Schweiz der kommenden Jahre: Wir müssen erst faire und attraktive Rahmenbedingungen für die Betreuungsarbeit sicherstellen, bevor wir Anreize für diesen Sektor schaffen. Wir müssen politisch dafür sorgen, dass Betreuungsarbeit jene Entlöhnung und jene Arbeitsbedingungen erhält, die sie verdient. Wenn wir das schaffen, wird es auch für Männer attraktiver werden, sich in diesem Bereich zu engagieren.
Die vier wichtigsten Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel sind meiner Meinung nach:
- Eine bessere Regelung der Arbeitszeit: Vollzeitarbeit muss mit Betreuungsarbeit und anderen gesellschaftlichen Aufgaben vereinbar sein. Die Erwerbsarbeitszeit muss daher für alle deutlich kürzer werden. Verlangt ist die 30- bis 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für die unteren Einkommen. Die Reduktion der Arbeitszeit muss jetzt vorangetrieben werden.
- Es braucht mehr bezahlte Urlaube: Mutterschaftsurlaub, Vaterschaftsurlaub und Elternzeit sowie Freistellungen für Personen mit Betreuungsaufgaben müssen ausgebaut werden, sowohl durch Gesamtarbeitsverträge wie auch auf gesetzlicher Ebene.
- Es braucht flächendeckende Kinderbetreuung. Jedes Kind hat Anspruch auf einen qualitativ guten Betreuungsplatz. Viele Studien haben zudem gezeigt, dass sich die frühe Förderung von Kindern, die vielfach in Kitas gewährleistet wird, auch stark volkswirtschaftlich lohnt: Jeder in die frühkindliche Bildung investierte Franken erzielt eine Rendite von sieben Franken.
- Faire Löhne: Seit mehr als 30 Jahren ist in der Bundesverfassung der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ verankert. Seit 17 Jahren ist das Gleichstellungsgesetz in Kraft. Mit der Durchsetzung der Lohngleichheit hapert es jedoch gewaltig! Selbst der 2009 gestartete und als Projekt befristete Lohngleichheitsdialog hat an dieser Tatsache nichts geändert. Es gibt nur minime Fortschritte und sie erfolgen im Schneckentempo.
Frauen gelten aktuell gleich zweifach als Büezerinnen. Zum einen weil sie in Haushalt und bei der Pflege von Kindern und Angehörigen chrampfen und dafür keinen Lohn erhalten und zum anderen weil sie auch bei der bezahlten Arbeit immer noch schlechter verdienen als Männer. Wenn wir also heute den 1. Mai feiern, dürfen wir nicht vergessen, dass ein Grossteil der Büezer in unserem Land weiblich ist und dass wir uns in den kommenden Jahren verstärkt für die Rechte der Büezerinnen stark machen müssen. Die Mindestlohn-Initiative ist das aktuell bei weitem umfassendste Programm von Lohngleichheit. Über 200‘000 Frauen, und genau die, die es besonders nötig haben – die Büezerinnen nämlich -, würden nicht nur einen besseren Lohnschutz, sondern auch höhere Löhne erhalten.
Nebst den Büezerinnen, das heisst all jenen Frauen, die zum einen zu wenig verdienen oder zum anderen gar nichts für ihre Arbeit erhalten, gibt es aber auch noch die Büezer, die ich zu Beginn meiner Rede erwähnt habe. Das heisst all jene, die in handwerklichen Berufen „chrampfen“: Die zahlreichen Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen auf den vielen Baustellen in der Schweiz, die vielen landwirtschaftlichen Mitarbeiter auf unseren Gemüsefeldern, die Coiffeusen und Coiffeure, die Pflegerinnen und Pfleger im Spital und Altenheimen und die vielen Verkäuferinnen und Verkäufer, um nur ein paar zu nennen. Alle jene halt, die ebenfalls zu einem Hungerlohn Grosses leisten.
Die Beispiele machen deutlich, dass die Inhalte, die den 1. Mai prägen nach wie vor aktuell sind. Mit Blick auf die Finanzkrise und die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich sind sie vielleicht sogar aktueller denn je zuvor. Es geht am 1. Mai um Fairness, Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich, Solidarität, gute Arbeitsbedingungen, Rechte am Arbeitsplatz und Menschenrechte. Diese Werte zählen mehr und sind nachhaltiger als die Gier der neoliberalen Manager nach dem schnellen Geld.
In den kommenden Monaten werden wir über einige Initiativen abstimmen, die genau solche Themen ins Visier nehmen. Wir erhalten so die Gelegenheit zu zeigen, dass die Schweiz nicht nur aus Bankern und Millionären besteht, sondern von einer modernen, demokratischen Gesellschaft, die auf ihre verschiedenen Sprachen und Kulturen stolz ist. Wir erhalten die Möglichkeit aufzuzeigen, dass die Schweiz eine grosse solidarische Tradition hat, mit starken Gewerkschaften und einem Volk, das demokratisch abstimmt und dabei auch mal auf den Tisch haut, sich aber auch für das Wohl aller einsetzt. Wir erhalten die Möglichkeit, zusammenzustehen und für eine solidarische Zukunft der Schweiz einzustehen. Wir erhalten die Möglichkeit zu zeigen, dass wir nicht nach dem Slogan „Geiz ist geil“ leben, sondern für eine solidarische, offene und zukunftsgerichtete Schweiz einstehen.