Euro-Plus-Pakt, Sixpack und Austeritätswahn sind nur drei Beispiele. Das Sündenregister der EU seit Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 ist lang. Die seit der Montan-Union mühsam aufgebauten Errungenschaften des „Sozialen Europas“ wurden Stück für Stück abgerissen. Der Klassenkompromiss der Nachkriegszeit wurde gekündigt. Die Infrastruktur wurde schlechter, Arbeitslosigkeit und Armut nahmen zu. In den letzten Jahren konservativer Dominanz in den EU-Mitgliedsstaaten hatten es Vorstösse für die soziale Sicherheit in Europa schwer. Die Trendwende folgt nun – nach der Banken-Krise in Griechenland, Spanien, Irland, Portugal und Spanien, der Wahl von Donald Trump und der Brexit-Abstimmung, die die EU in ihren Grundfesten erschüttern – reichlich spät. Aber immerhin.
Auf Druck der linken Fraktionen im EU-Parlament kündigte der christlich-soziale Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union am 13. September 2017 weitreichende Reformen an. Juncker versprach unter anderem Säulen der sozialen Rechte, einen europäischen Finanzminister, mehr Geld für die regionale Entwicklung, Massnahmen gegen undeklarierte Arbeit und Sklaverei und zu Gunsten von entsandten Lohnabhängigen. Mit der Umsetzung dieser Massnahmen und mit dem neuen EU-Budget für 2021-2027, mit dem mehr in einen Sozialfonds Plus, Infrastruktur und Entwicklungszusammenarbeit investiert werden soll, folgen dieser Rede auch erste zaghafte Taten.
Eines dieser Projekte ist von besonderer Bedeutung. Erstens, weil es von den Brexiteers in der Abstimmungskampagne 2016 besonders hervorgehoben wurde. Zweitens, weil es auch die Verhandlungen der Schweiz über ein institutionelles Rahmenabkommen beeinflussen dürfte.
Lohndumping und mangelhafter Schutz gegen schlechte Arbeitsbedingungen waren die Argumente, die während der Brexit-Kampagne von den Nationalisten leidenschaftlich bewirtschaftet wurden. Mit fremdenfeindlichen Zerrbildern vor osteuropäischen Gastarbeitern machten die Demagogen von Ukip und des rechten Tory-Flügels Stimmung gegen die EU. Ohne freilich eine Lösung anzubieten. Mit der letzte Woche im EU-Parlament verabschiedeten Änderung der EU-Entsenderichtlinie und dem Projekt für eine europäische Arbeitsbehörde (ELA oder „Social Europol“) werden endlich Nägel mit Köpfen gemacht. Und dabei wird ein Erfolgsrezept der Schweiz in den Grundzügen übernommen. Mit den Flankierenden Massnahmen (FLAM) setzten die Schweizer Gewerkschaften schon 2004 ein wirksames Mittel gegen Lohndumping durch. Statt die Schuld auf entsandte Arbeiterinnen und Arbeiter zu schieben, setzen sie dort an, wo Handlungsbedarf besteht: Beim Vollzug des Arbeitsgesetzes und der Gesamtarbeitsverträge. Und bei kriminellen Arbeitgebern, die sich nicht an die Regeln halten. Genau das will auch die EU-Richtlinie: In Zukunft sollen im Binnenmarkt für gleiche Arbeit am gleichen Ort die gleichen Löhne gelten. Durchgesetzt dürften diese Spielregeln von einer neu geschaffenen „Social Europol“ werden, die momentan noch in der zuständigen Parlamentskommission in Erarbeitung ist. Neu soll eine zentrale Behörde die Kontrolle der lokalen Löhne und Arbeitsbedingungen überwachen und so Missbrauch verhindern. Ein gewerkschaftlicher Meilenstein, der die Personenfreizügigkeit so gestaltet, dass sie nicht missbraucht werden kann. Die europäische Kontrolle muss durch nationale Kontrollmöglichkeiten ergänzt werden.
Für die Schweiz sind das im Ringen um ein Rahmenabkommen gute Neuigkeiten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die EU-Kommission die FLAM lieber gestern als heute beerdigen wollte. Mit der neuen Entsenderichtlinie wird dieser Angriff auf den Schweizer Lohnschutz hinfällig. Die Verhandlungen dürften damit einfacher werden. Im Kern verlangen die FLAM die Registrierung von Unternehmen, die Lohnkontrolle und die Sanktionierung. Diese drei Punkte müssen dauerhaft gesichert werden. Damit wird der unheiligen Allianz Herrliberg-Brüssel der Wind aus den Segeln genommen. Denn SVP-Nationalrätin Martullo-Blocher, die Ende 2017 einen Angriff auf die FLAM lancierte, dürften dann die Argumente ein für allemal ausgehen.
Noch sind die Reformen für mehr soziale Sicherheit nicht im Trockenen. Und die Zeit drängt. Im August übernimmt die rechtskonservative österreichische Regierung die EU-Präsidentschaft und im Mai 2019 finden Wahlen fürs EU-Parlament statt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Reformen für ein gerechteres Europa unter neuen Mehrheitsverhältnissen durchkommen werden. Und genau hier sieht man den Charakter der EU: Fortschrittliche Reformen für alle Europäerinnen und Europäer sind auf EU-Ebene leichter umzusetzen. Aber man braucht Mehrheiten. Wie überall.