Ein Festtag der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit

Rede zum 1. Mai 2015 in Unterseen (BE)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, liebe Angestellte

Das Thema des diesjährigen 1. Mai ist das zentrale Thema: Es geht um unsere Löhne und um unsere Renten. Wenn wir von Löhnen und Renten sprechen, dann sprechen wir immer über die grosse Mehrheit der Menschen in unserem Land.

Die Mehrheit sind jene, die täglich mit unermüdlichem Fleiss, mit grosser Zuverlässigkeit und mit hoher Motivation ihren Job machen. Die Mehrheit sind jene, die mit ihrer Lohnarbeit dieses Land erst aufgebaut haben. Diese Mehrheit, liebe Anwesende, das seid Ihr. Ihr realisiert jeden Tag mit eurer Berufsarbeit das Erfolgsmodell Schweiz. Ihr seid die wahren Leistungserbringer und Leistungsträger in diesem Land.

Dies im Gegensatz zu jenen, die von Börsen- und Finanzgeschäften leben. Sie arbeiten nicht. Sie spielen. Sie spielen um Geld. Und um unsere Arbeitsplätze. Sie brauchen auch keinen 1.Mai. Sie haben das ganze Jahr hindurch 1. Mai – und Weihnachten zugleich. Für sie ist immer Feiertag. Selbst dann, wenn sie das globale Finanzsystem an die Wand fahren. Denn dann eilt der Staat herbei und rettet Börsen und Banken.

Die Rechnung dafür zahlen nicht – wie es eigentlich richtig wäre – Börsianer und Banker, sondern die Mehrheit der Angestellten. Also wir, die Mittelklasse. Das erleben wir jetzt wieder: Seit die Nationalbank den Frankenkurs dem Markt überlassen hat, müssen überall Angestellte um ihren Arbeitsplatz zittern oder zusätzliche Stunden leisten.

Die Tourismusbranche, die hier am Tor zum Oberland wichtig ist, muss sich wegen des starken Frankens noch stärker anstrengen als vorher. Ferien auf der Hochpreisinsel Schweiz können sich nur die Gutbetuchten leisten. Der Blick auf die atemberaubende Jungfrau ist heute eine Frage des Portemonnaies. Für die kleinen Leute aus Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien mit ihren kleinen Löhnen liegt das nicht mehr drin. Sie schauen sich die Jungfrau heute bestenfalls auf Google-Maps an. Das ist auch eine Form der sozialen Ausgrenzung.

Die Gutbetuchten wiederum wollen nicht nur eine schöne Aussicht, sondern ein anspruchsvolles Gesamtangebot. Das so genannte Intensiverholungsgebiet Jungfrau Ost befriedigt vielerlei Bedürfnisse. Dazu gehören die vielfältige Gastronomie und Hotellerie, die Landschaft und ein Verkehrssystem mit zwei Intercitybahnhöfen und Bergbahnen, das nichts zu wünschen übrig lässt. Aber seien wir uns bewusst: Tourismus funktioniert nur, solange das Personal motiviert ist und mitmacht.

Motiviertes Personal gibt es nur, wenn die Arbeitsbedingungen stimmen. Lohndrückerei verträgt sich schlecht mit der Hochpreisinsel, so schlecht wie blinde Passagiere auf einem Kreuzfahrtschiff oder Fastfood im Jungfrau Victoria. Lohndrückerei macht die Schweiz nicht wettbewerbsfähiger, im Gegenteil: Sie schadet dem Service public und der Qualität, untergräbt Motivation und Solidarität.

Ohne den Kampf der Gewerkschaften wären die Löhne in der Schweiz längstens auf ein bedenkliches Niveau abgesackt. Die flankierenden Massnahmen, die Gesamtarbeitsverträge und Minimallöhne sind bewährte Mittel des Lohnschutzes. Allerdings ist der Anteil der Arbeitnehmenden, die einem GAV unterstellt sind, in der Schweiz mit knapp 50 Prozent vergleichsweise gering.

Und dass die Lohngleichheit von Mann und Frau noch lange nicht realisiert ist, ist eine traurige Tatsache. Das hat leider auch damit zu tun, dass viele Arbeitnehmende der Ansicht sind, es brauche keine Gewerkschaft. Sie lassen zu, dass Wirtschaftsführer die Gewerkschaften schlecht reden. Und sie glauben, sie seien allein stark genug, um für einen gute Lohn zu sorgen. Das ist ein Trugschluss. Sie alle unterschätzen die Bedeutung der Gewerkschaften. Sie sind sich nicht bewusst, dass der Kampf, den andere führen, entscheidend für ihren eigenen Lohn ist. Und dass sie eigentlich Trittbrettfahrer sind. Umso mehr verdienen all jene Menschen Anerkennung, die sich aktiv in den Gewerkschaften und Personalverbänden engagieren und die heute den 1. Mai feiern.

Während die Schweiz in Sachen Sozialpartnerschaft beileibe keine Musterschülerin ist, ist sie spitze in Sachen Abgrenzung und Ausgrenzung. Das gilt zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik. Trotz des menschlichen Dramas auf dem Mittelmeer und obwohl es uns im Vergleich zu anderen Ländern hervorragend geht, bleiben wir hartherzig. Vielleicht sollte man jeder Schweizerin und jedem Schweizer bei Geburt einen Reisegutschein schenken nach Kairo oder Kalkutta, um das Bewusstsein für das eklatante Wohlstandsgefälle zu schärfen.

Ausgrenzung praktizieren wir auch gegenüber der legalen Migration. Die Schweiz ist zwar ein Migrationsland. Dennoch lässt sie Zugewanderte lange warten, bis sie an der Demokratie teilhaben können. Über ein Drittel der ständigen Wohnbevölkerung hat ausländische Wurzeln. In der Schweiz dauert es mehrere Generationen, bis Zugewanderte durch Einbürgerung Einheimische werden. Immigration hat der Schweiz zwar Wohlstand gebracht, aber keine Erneuerung der Demokratie.

Ich bin stolz darauf, Stadtpräsident einer Stadt zu sein, in der Menschen aus über 160 Nationen leben. Einer Stadt, die Wert auf gelebte Integration legt, einer Stadt, welche die SVP-Masseneinwanderungsinitiative mit dem Rekordergebnis von 72,3 Prozent abschmetterte. Zuwanderung und Integration findet vor allem in den Städten und Agglomerationen statt. Mit der Urbanisierung und Verdichtung wächst die Produktivität. Aus sozialen Interaktionen entsteht Neues.

Die Region Interlaken gilt gemäss Definition des Bundesamts für Statistik als Agglomeration. Die so genannten Bödeli-Gemeinden mit Unterseen, Interlaken, Matten und den Nachbargemeinden bilden diesen alpenstädtischen Raum, der geprägt ist von Ganzjahrestourismus und hoher Wertschöpfung. Darum ist hier auch das Bewusstsein vorhanden, dass es faire Löhne braucht, und dass diese erkämpft werden müssen, indem man zusammensteht und sich organisiert.

Der gewerkschaftliche Boden ist hier im Oberland allerdings steinig. Gewerkschafterin oder Gewerkschafter zu sein und eine linke Politik zu fordern, ist in dieser Region ungleich schwieriger als in der Stadt Bern, wo wir seit nun schon 23 Jahren eine Mitte-links-Mehrheit haben. Linke Anliegen finden in Bern und in den grossen Schweizer Städten eher eine Mehrheit. In Bern und in den grossen Städten darf man noch Sozialdemokrat oder Gewerkschafter sein, ohne riskieren zu müssen, dass man angefeindet wird.

Anders ist das in Regionen wie hier im Oberland: Hier seht ihr euch, liebe Anwesenden, einer dominanten bürgerlichen Übermacht gegenüber, die keine Geschenke macht. Hier müsst ihr doppelt und dreifach so hart kämpfen, um nur schon Gehör zu finden für gewerkschaftliche Anliegen. Das braucht enorm viel Mut, viel Durchhaltevermögen und viel Rückgrat. Dafür gebührt euch grosser Dank.

Liebe Kolleginnen und Kollegen – wir brauchen eine starke sozialdemokratische Vertretung in allen Gremien, um Löhne und Renten zu verteidigen, um Ausgrenzung zu bekämpfen und sozial Benachteiligte zu schützen. Gerade auch im Berner Oberland. Und wir brauchen eine Politik, die nicht nur ländlichen, sondern auch städtischen und urbanen Anliegen gerecht wird. Denn in den Agglomerationen und Städten wird der Wohlstand der Schweiz erarbeitet.

Das Bödeli ist das Schwemmgebiet zwischen den Seen, das zur Versöhnung zwischen der Stadt- und Landbevölkerung beitrug. 1805 fand hier die grosse Begegnung zwischen Stadt und Land in Form des ersten Unspunnenfests statt. Das Unspunnenfest ist über die vielen Jahre zum grossen Ereignis der Traditionen geworden, das weit über die Region ausstrahlt.

Das nächste Unspunnenfest, das im August 2016 stattfindet, sollte das Oberland als Anlass nehmen, den Geist der Solidarität zwischen Stadt und Land aufleben zu lassen. Ich wünsche 2016 ein nachhaltiges Fest mit vollen Hotelbetten und einer Werbewirkung weit über die Region hinaus. Und ich wünsche heute einen kämpferischen Tag der Arbeit. Er soll ein Festtag der Solidarität und sozialen Gerechtigkeit sein – und es auch in Zukunft bleiben.

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