Eine andere Asylpolitik von unten

Mit dem Massensterben von Flüchtlingen Ende April im Mittelmeer haben sich die Millionen von Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, wieder ins kollektive Bewusstsein gedrängt.

Die Zahlen sind eindrücklich: Mehr als 50 Millionen Menschen waren 2014 gemäss UNHCR auf der Flucht. So viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nie mehr. Im selben Jahr sind mehr als 3400 von ihnen auf der Suche nach einem sichereren Hafen in Europa im Mittelmeer ertrunken. So schnell wie das Elend der Flüchtlinge sich in die öffentliche Wahrnehmung gedrängt hat, so schnell dürfte es wieder verschwinden. An seine Stelle dürfte bald wieder Fremdenfeindlichkeit und Abschottung treten. Aber warum? Warum schafft es die Linke nicht die grosse Betroffenheit in konkrete Politik umzumünzen?

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dies trotz ausländerfeindlichem Klima und widriger weltpolitischer Konstellation in der Vergangenheit mindestens einmal gelungen ist. Als die sozialistische Regierung von Salvador Allende 1973 in Chile durch einen Militärputsch gestürzt wurde, erreichten fortschrittliche Kräfte trotz grösster Widerstände die Aufnahme von über 2000 Flüchtlingen aus Chile. Dies ist rückblickend sehr überraschend, denn zu Beginn sah es gar nicht danach aus. 1970 sagten 46 Prozent der Schweizer Stimmbürger Ja zur ersten Schwarzenbach-Initiative, die die Schweiz vor der «Überfremdung» bewahren sollte. 1974 sollte die zweite Initiative aus dem Hause James Schwarzenbach folgen. Die fremdenfeindliche Kampagne war also in vollem Gange. Ausserdem befand sich die Welt 1973 mitten im Kalten Krieg. Trotz Neutralität verstand sich die Schweiz dem Westen zugehörig, und es dominierten anti-kommunistische Parolen. Vor diesem Hintergrund beschloss der Bundesrat nach dem Pinochet-Putsch am 11. September keine Flüchtlinge aus Chile aufzunehmen – diese seien zu links und möglicherweise gefährlich. Zuvor war 1956 und 1968 ein grosses Kontingent von UngarInnen und TschechoslowakInnen auf der Flucht vor dem «Weltkommunismus» in der Schweiz aufgenommen worden.

Die Empörung der Schweizer Linken, die sich mit dem chilenischen Modell des demokratischen Sozialismus solidarisch verbunden fühlte, war gross. Umgehend prostestierte die SP beim Bundesrat und erreichte immerhin die Aufnahme von «200 Flüchtlingen aus Chile». Der Bundesrat wählte dabei ganz bewusst diese Formulierung, um zu verschleiern, dass es sich bei den Aufgenommen nicht um chilenische Oppositionelle, sondern um ausländische Flüchtlinge in Chile handelte. ChilenInnen wurden in diesem ersten Kontingent kaum aufgenommen.

Eine Gruppe um den linken Pfarrer Cornelius Koch belebte daraufhin die Zürcher Freiplatzaktion neu. An zahlreichen Solidaritätskundgebungen wurde gegen die offizielle Schweizer Asylpolitik protestiert. Und über einen Aufruf wurden innert weniger Wochen 3000 Plätze für Asylsuchende in Pfarrhäusern, auf Bauernhöfen und bei Familien gefunden. Doch der Bundesrat und sein zuständiger Justizminister Kurt Furgler weigerten sich, der Freiplatzaktion und ihren UnterstützerInnen in der Bevölkerung nachzugeben. Trotz zahlreichen Sitzungen zwischen VertreterInnen des Bundes und Mitgliedern der Freiplatzaktion konnte keine Einigung gefunden werden. Erst als die AktivistInnen zum zivilen Ungehorsam übergingen und anfingen, chilenische Flüchtlinge über die Tessiner Grenze aus Italien einzuschleusen und sie privat platzierten, mussten die Behörden schliesslich nachgeben und deren Anwesenheit akzeptieren.

Sicher, die Ereignisse der 1970er Jahre lassen sich nicht eins zu eins auf die heutige Situation übertragen. Trotzdem können einige bedenkenswerte Erkenntnisse daraus gezogen werden.

Erstens wäre der Erfolg der Freiplatzaktion ohne eine widerständige, kämpferische Linke, die dadurch Unterstützung und Respekt bis in die bürgerliche Mitte fand, nicht möglich gewesen. In einem Interview mit SRF zu seinem Fim «Das Boot ist nicht voll» resümierte der Filmer Daniel Wyss: «1974 gab es ja noch kein Asylgesetz in der Schweiz. Kurt Furgler hat dann später bei der Ausarbeitung des ersten Asylgesetzes eine liberale Ausgestaltung unterstützt. Viele Flüchtlingsorganisationen attestierten diesem ersten Asylgesetz Menschlichkeit. Ich glaube, dass die Geschichte mit den chilenischen Flüchtlingen einen entscheidenden Einfluss auf das Asylgesetz hatte, weil man verhindern wollte, dass es wieder zu einer derartigen Aktion aus der Bevölkerung kommt.» Erst die ausserparlamentarische Mobilisierung der Linken ermöglichte also eine humanere Gesetzgebung im Parlament.

Zweitens war die internationale Vernetzung und das Verständnis der Linken als globale Bewegung für mehr Freiheit und Gleichheit viel ausgeprägter als heute. Der Angriff der imperialistischen und faschistischen Kräfte auf die Allende-Regierung erschien vielen Schweizer Linken als ein Angriff auf die eigenen GenossInnen, obwohl sich das Geschehen auf der anderen Seite der Welt befand. «Chile war ein Experiment, das wir alle mit Spannung verfolgten», erklärte mir ein ehemaliger Schweizer Chile-Aktivist. Die direkte Verbundenheit mit den Betroffenen setzte enorme Kräfte für die Flüchtlinge frei, die heute mangels Bezug fehlt.

Und drittens war die Linke – zumindest im Bezug auf die Flüchtlingsfrage – weniger staatsgläubig. 1978 äusserte sich Bundesrat Furgler in einer Fernsehsendung zu den Forderungen der Freiplatzaktion: «Wir standen damals vor der einmaligen Situation, dass schlagartig einzelne Organisationen selber darüber entscheiden wollten, wie viele dieser Flüchtlinge in die Schweiz kommen sollen.» Und das, erläuterte Furgler weiter, gehe nun ja wirklich nicht. Der Einfluss dieser Organisationen auf die Anzahl der aufgenommen Flüchtlinge war dennoch gross, wie auch Furgler nicht bestreiten konnte. Durch den zivilen Ungehorsam, der durch weite Teile der Bevölkerung gedeckt oder zumindest geduldet wurde, musste der Staat nachgeben.

Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Die Schweizer Asylpolitik wird sich so schnell nicht grundlegend ändern. Aber die Ohnmacht gegenüber dem Elend und der Ungerechtigkeit der Millionen Flüchtenden muss nicht sein. Eine widerständige, internationalistische und kritische Linke hätte das Potenzial, sehr viel zu verändern –  unabhängig von der SVP-Fremdenfeindlichkeit. Diese Lehre aus dem Erfolg der Zürcher Freiplatzaktion der 70er-Jahre sollten wir beherzigen.

 

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