Eine europapolitische Roadmap für die blockierte Schweiz

Die SP macht einen konkreten Vorschlag zur Deblockierung der Beziehungen zur EU: Sie präsentiert eine Roadmap, die zwei Phasen ab 2022 vorsieht und innert wenigen Jahren für beide Parteien die nötige Stabilität und Zukunftsfähigkeit ermöglichen kann. Die SP schlägt eine erste, stabilisierende Phase vor, in welcher zuerst in einem Stabilisierungsabkommen die Teilnahme an den Kooperationsprogrammen geregelt wird, die für den Bildungs- und Forschungsstandort Schweiz von grösster Bedeutung sind. In einer zweiten Phase folgen neue Verhandlungen zu den Fragen des Binnenmarktzugangs.

Kein einziger Kanton hatte im Frühjahr 2021 vom Bundesrat verlangt, dass er die Verhandlungen zum Institutionellen Rahmenabkommen (InstA) zwischen der Schweiz und der Europäischen Union abbrechen solle. Ebenso hatte keine Sachkommission des Ständerates oder des Nationalrates eine solche Empfehlung ausgesprochen. Während die SVP einen Abbruch immer wollte und am Schluss sehr begrüsste, hatten sich die übrigen Bundesratsparteien nicht auf Kompromisse bei Klärungsfragen einigen können und somit eine Blockade im Europadossier nach der verunglückten Schlussphase in den Verhandlungen mitprovoziert. Der Bundesrat entschied in diesem Spannungsfeld am 26. Mai 2021, die jahrelangen Verhandlungen um eine institutionelle Lösung1 für die Bilateralen Verträge mit der Europäischen Union einseitig und ohne einen weiteren klaren Plan abzubrechen. Damit verstärkte die Exekutive eine bereits bestehende Blockade im Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union noch weiter. Seither konnte kein Entwicklungsschritt in den Fragen um die Weiterentwicklung der vertraglichen Bindungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union erreicht werden.

I. Statische Bilaterale Verträge haben keine Zukunft mehr

Seit dem Verhandlungsabbruch werden bestehende Marktzugangsabkommen nicht mehr nachgeführt, auch wenn die Schweiz zur Nachführung bereit wäre. Ebenso wird die bereits bestandene Blockade in den Verhandlungen über neue Abkommen von der Europäischen Union fortgeführt. Die seit 2019 blockierte Äquivalenzanerkennung der Regulierungen der Schweizer Börse bleibt ebenso bestehen wie inzwischen auch die Verhandlungen zur Assoziierung der Schweiz an EU-Programmen in der Periode 2021-20272. Die Europäische Union vertritt die Ansicht, dass die Gesamtheit der Beziehung nicht mehr ausbalanciert sei, eine Fortführung von statischen bilateralen Verträgen nicht mehr zukunftsfähig und daher eine grundsätzliche Ausrichtung der schweizerischen Europapolitik nötig sei. Erst im Lichte eines neuen klaren Ziels und eines Fahrplans der Schweiz können die weiteren Schritte in der Entwicklung des Verhältnisses Schweiz-EU festgelegt werden. Nach ein paar Monaten ist klar, dass der bundesrätliche Entscheid mehr Schaden der Schweiz zufügt, als dass er klärend wirkt. Diese blockierte Situation (keine Aufdatierungen, keine neuen Verträge, keine Gleich wertigkeitsanerkennungen, keine Assoziierung bei EU-Programmen) ist für das ganze Europadossier eine eigentliche Sackgasse, die man nur durch besonnenes Handeln in der Schweiz verlassen kann.

Die Forderung nach einer verbindlichen Roadmap veranlasste die SP Schweiz dazu, einen entsprechenden Umsetzungsplan zu entwickeln und in die öffentliche Diskussion einzubringen. Der Umsetzungsplan gliedert sich in ein kurzfristig zu verhandelndes Stabilisierungsabkommen und darauf aufbauend eine neu zu verhandelnde Wirtschafts- und Kooperationspartnerschaft.

II. Die europapolitische Roadmap der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz

Am 22. Dezember 2021 stellte die SP Schweiz der Öffentlichkeit eine Roadmap für die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union vor. Die Meilensteine dieser Umsetzungsplanung sollen hier dargestellt werden. Kern der Umsetzungsplanung ist eine zweiphasige Vertragsabfolge, welche a) eine Stabilisierung in der Beziehung bringt und darauf aufbauend b) eine zukunftsfähige Lösung für die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Kooperationspartnerschaft ermöglicht. Zudem hält eine solche Lösung der institutionellen Fragen c) die langfristige Option der EU-Mitgliedschaft offen.

a) Stabilisierungsphase

Die Stabilisierungsphase adressiert zuerst einmal die Kooperationsdimension zwischen den Vertragsparteien, da diese beidseitig einer raschen Lösung bedarf. Die Schweiz hat ein Interesse, rasch wieder bei den EU-Programmen 21-27 (insbesondere bei Erasmus+ und Horizon Europe) assoziiert zu werden. Die EU ihrerseits hat bereits mehrmals deutlich gemacht, dass die schweizerische Kohäsionsleistung im Sinne der europäischen Zusammengehörigkeit erhöht werden muss. Beide Parteien möchten den politischen Dialog institutionalisieren und gemeinsam festlegen, was in einer nächsten Verhandlung zur Zukunftsfähigkeit des sektoriellen Marktzugangs geregelt werden muss. Um die Dynamik der Verhandlungsführung zu nutzen und im Wissen darum, dass die Blockade bei der Forschungszusammenarbeit nur bis zum Ende des langfristigen EU-Haushalts 2021-2027 erreicht werden kann, sollten auch die Stabilisierungselemente befristet vereinbart werden. Ein Nachfolgeabkommen über eine umfassende Wirtschafts- und Kooperationspartnerschaft zwischen der Schweiz und der EU löst anschliessend das Stabilisierungsabkommen ab. Es ist dabei nicht zwingend, dass dieses Nachfolgeabkommen, erst im Jahre 2028 rechtskräftig wird. Wenn die Verhandlungen früher erfolgreich abgeschlossen werden können – was die SP sehr begrüssend würde – kann umgehend die Paraphierung und Ratifikation des Wirtschafts- und Partnerschaftsabkommens erfolgen. 

Innenpolitisch wird die Verhandlung für ein Stabilisierungsabkommen mit den zwei Projekten «Stabilex» und «Europagesetz» ergänzt. Im Europagesetz können Eckpunkte und Leitlinien für die zukünftige Partnerschaft zwischen der Schweiz und der EU festgehalten werden. Damit wird auch die Legislative (und ggf. sogar die Bevölkerung) in die Mitverantwortung einer zukünftig erfolgreichen Europapolitik eingebunden. Idealerweise gelingt es, die innenpolitischen Arbeiten zu einem Europagesetz und die aussenpolitische Verhandlung zu einem Stabilisierungsabkommen zeitlich zu koordinieren, sodass sie in einem einzigen Bundesbeschluss für einen direktdemokratischen Entscheid im Jahre 2023 bereitstehen.

b) Wirtschafts- und Kooperationspartnerschaft

Wenn das Stabilisierungsabkommen vereinbart ist, kann unmittelbar danach mit den Verhandlungen zu einer umfassenden Wirtschafts- und Kooperationspartnerschaft begonnen werden. In diesem Vertragspaket können die Verhandlungsziele aus dem Stabilisierungsabkommen umgesetzt werden. Für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Kooperationspartnerschaft braucht es folgende Lösungen in einem Verhandlungspaket:

Die Verhandlungen zu diesem Wirtschafts- und Kooperationspaket können rasch vollzogen werden. Das Strom- und Gesundheitsabkommen ist nahezu fertig verhandelt. Zu den institutionellen Lösungen liegen verschiedene Lösungsansätze bereit, die noch einmal bewertet und dann abschliessend bereinigt werden können. Inwieweit dieses Verhandlungspaket in einem einzigen Wirtschafts- und Kooperationsabkommen mit Anhängen geregelt wird oder ob dieses umfassende Vertragswerk in einem Vertragspaket geregelt wird, ist heute unwichtig. Die bestehenden Differenzen, Stand Januar 2022, zwischen der SP, den Grünen, der Mitte, der GLP und der FDP drehen sich primär um diese eher sekundäre Frage. Dies lässt uns hoffen, dass eine Wiederbelebung der klassischen europapolitischen Koalition rasch möglich ist. Ein zentralerer Punkt ist, dass die Zielsetzung des zu verhandelnden Vertragswerks demokratisch legitimiert ist. Daher wäre die Verabschiedung eines eigentlichen Europagesetzes mit grundsätzlichen Leitlinien hilfreich. Schlussendlich kann die umfassende Zielsetzung wohl nur mit einem vorangehenden Vertrag – dem Stabilisierungsabkommen – erreicht werden. Mit dem Abschluss des Wirtschafts- und Kooperationsabkommens erscheint es auch sinnvoll, die Kohäsionsleistung zu verstetigen und in der Höhe sachgerecht festzulegen. Wichtig ist, dass diese Verhandlungen und internen Ratifikationsprozesse bis spätestens am 31.12.2027 abgeschlossen sind, weil dann wiederum der nächste langfristige EU-Haushaltsplan (2028-34) in Kraft tritt. Gelingt es nicht, das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union bis dahin zukunftsfähig zu vereinbaren, ist erneut mit Verstimmungen und Blockaden in der Weiterentwicklung der Beziehung zu rechnen.

Wichtig bleibt auch, inwieweit die Vertragsparteien eine befriedigende Lösung bei den bisherigen Streitpunkten in der Nachführung des Personenfreizügigkeitsabkommens (PFZA) finden können. Dies betrifft insbesondere die teilweise Übernahme der Freizügigkeitsrichtlinie und die Gewährung und Durchsetzung eines schweizerischen Lohnschutzregimes bei gleichzeitiger Gewährung der vertraglich vereinbarten Dienstleistungsfreiheit. Dass Lösungsansätze bestehen ist heute unbestritten, da auch die EU-Regulierungen zur Entsendung und zur Gewährung und Durchsetzung von nationalen Anstellungs- und Lohnbedingungen weiterentwickelt wurden. Die möglichen Lösungsansätze müssen hier im Rahmen einer strategischen Roadmap nicht detailliert erarbeitet werden, aber es wäre sicher Aufgabe auch der Sozialpartner oder der Sozialdemokratischen Partei, in den nächsten Monaten sachgerechte und akzeptable Möglichkeiten aufzuzeigen. Bedeutungsvoll bleiben bereits bestehende Vertragselemente wie «Schutzklauseln» oder ein «gemeinsames Auslegungsinstrument» gemäss Artikel 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention. Mit einem gemeinsamen Auslegungsinstrument können die Vertragsparteien gemäss der Wiener Vertragsrechtskonvention eindeutig zum Ausdruck bringen, worauf sie sich mit einigen Bestimmungen des Abkommens (z. b. den Lohnschutzbestimmungen) geeinigt haben. Ein solches Verfahren wurde auch beim CETA-Abkommen gewährt4, als in öffentlichen Debatten nicht klar zum Ausdruck gebracht werden konnte, wie die entsprechenden Vertragsklauseln zum Umweltschutz oder Arbeitnehmerrechten einvernehmlich auszulegen wären.

c) Integrationsbericht und Option EU-Beitritt bleibt

Gelingt es, die Wirtschafts- und Kooperationspartnerschaft zwischen der Schweiz und der EU als sektorielle Assoziierung stabil und zukunftsfähig auszugestalten, kann sich die Politik einer umfassenderen Integrationsperspektive zuwenden. Nach Meinung der SP sollte dazu ein periodischer Integrationsbericht erarbeitet und parlamentarisch beraten werden. Dabei kann die Option eines EU-Beitritts mit ihren Vor- und Nachteilen auf der Basis eines dannzumal stabilen Verhältnisses als assoziierter Drittstaat wieder unverkrampft reflektiert werden. Die SP Schweiz betrachtet heute den EU-Beitritt immer noch als die beste Lösung, um die Interessen der Schweiz und ihrer Bürgerinnen und Bürger zu wahren. Im Oktober 2022 wird der Parteitag über eine überarbeitete langfristige europapolitische Strategie der Sozialdemokratischen Partei entscheiden. Auch wenn die Details noch geklärt werden müssen, ist heute schon klar, dass der EU-Beitritt mittelfristig als die sinnvollste Option angesehen wird. Die vorliegende europapolitische Roadmap hat das Ziel, die bestehenden kurz- und mittelfristigen Herausforderungen anzugehen und dabei den Weg für eine EU-Mitgliedschaft der Schweiz zu ebnen.

III Erfahrung der Schweiz mit «befristeten Abkommen»

Bedeutend erscheint in dieser Roadmap die vertraglich verknüpfte Abfolge von zwei Verträgen, bzw. die Befristung des ersten Vertrages. Eine solche Vertragsabfolge hat die Schweiz bereits einmal vor 30 Jahren beim Transitabkommen gewählt. Die Schweiz und die Europäische Gemeinschaft schlossen im Mai 1992 ein Abkommen über den Güterverkehr auf Strasse und Schiene ab. Teil davon war die vom Volk noch nicht beschlossene NEAT. Das Abkommen nahm mit der Favorisierung der Bahn und der Etablierung des kombinierten Verkehrs Rücksicht auf die politischen und topografischen Besonderheiten der Schweiz. Aber es verpflichtete die Schweiz auch, direktdemokratisch die Entscheide zur NEAT zu treffen. In der Folge konnte die Schweiz das Landverkehrsabkommen mit dem Paket der Bilateralen I im Jahre 1999 unterzeichnen. Erst mit dem Landverkehrsabkommen konnte die Schweiz die Zusammenarbeit mit der EU im Verkehrsbereich langfristig absichern und die Verlagerungspolitik im europäischen Kontext verankern. Das Landverkehrsabkommen trat per 1. Juni 2002 in Kraft und ersetzte schrittweise – und ab 1. Januar 2005 vollständig – das befristete Transitabkommen zwischen der Schweiz und der EU. 

Diese Erfahrung zeigt, dass mit einem befristeten Abkommen mit weit komplexeren demokratischen Entscheiden, eine zukunftsfähige Lösung gefunden werden konnte. Der gleiche Grundgedanke liegt dieser europapolitischen Roadmap zu Grunde. Mit einer Stabilisierungsphase schaffen wir die Grundlagen für eine gute Verhandlungsführung zu einer zukünftigen Wirtschafts- und Kooperationspartnerschaft. Das Europadossier muss nicht blockiert bleiben, aber es muss in einzelne Schritte aufgeteilt werden – europapolitische Meilensteine zwischen 2023 und 2027.

 

1 Als «institutionelle Lösung» wird vereinfacht ein allgemein gültiger Streitbeilegungsmechanismus und eine Aufdatierungsmechanik bei den Rechtsentwicklungen im EU-Recht bezeichnet, soweit die Schweiz diese Rechtssetzungen (Europäisches Recht) vertraglich übernommen hat.

2 Es handelt sich dabei um die vom Parlament bereits beschlossene Assoziierungsmöglichkeit als Drittland an Horizon Europe, Digital Europe, Euratom und ITER. Die eidgenössische Bundesversammlung hat zudem mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass sie auch wieder am Programm Erasmus+ assoziiert sein möchte.

3 Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf das Gutachten M. Ambühl/S. Scherer, ETH Zürich, «Alternativen im Verhandlungsprozess», 8.2.2021.

4 Gemeinsames Auslegungsinstrument zum umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) zwischen Kanada und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten: siehe hier.

Autoren:

Eric Nussbaumer, Nationalrat, SP
Dr. Severin Meier, Politischer Fachsekretär für Aussen- und Sicherheitspolitik, SP Schweiz

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