Eine soziale Schweiz in einem sozialen Europa

Jacqueline Fehr, Nationalrätin ZH, Vizepräsidentin der SP Schweiz

Jacqueline Fehr, Nationalrätin ZH, Vizepräsidentin der SP Schweiz
Rede zum 1. Mai 2014 in Wohlen (AG)

Letzte Woche hat eine Frau auf Facebook geschrieben:

Komm wir bräteln eine Wurst als Protest dagegen, dass Flüchtlinge eine Wohnung kriegen.

Also aus Protest gegen Menschen(!), die beispielsweise monatelang auf der Flucht vor Krieg waren, fast verhungerten und dann in Zeltstädten warteten. Warteten bis sie wieder heim können oder eben Asyl erhalten. Die Schweiz nimmt ca. 500 syrische Flüchtlinge auf, ca. 3 Millionen Syrierinnen und Syrier sind auf der Flucht vor dem Krieg.

Komm wir bräteln eine Wurst aus Protest – Mich würgt es gewaltig. 

Die Frau ist mit diesen Worten der fremdenfeindlichen, rassistischen Stimmung in Aarburg entgegengetreten, wo sich mehrere Hundert Menschen vor den Wohnhäusern an der Lindengutstrasse zusammengefunden hatten, um mit einem Grillfest gegen die Asylsuchenden zu protestieren, die dort ein Zuhause erhalten sollen.

Ein Grillfest gegen Asylsuchende! Wie schnell das geht! Wie schnell sich die Zivilisation verabschiedet, wenn ein paar Stimmung machen, Gratiswürste anbieten, Gruppenheimat schaffen. Tschüss Zivilisation, tschüss Menschlichkeit, tschüss Grundrechte. Wie waren wir in den 90er Jahren entsetzt, als wir zusehen mussten, wie sich im Südosten Europas, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, Männer bekriegten, die eben noch Nachbarn waren. Wir waren wir entsetzt, als wir mit ansehen mussten, wie dünn das Eis ist, auf dem unsere Zivilisation steht und wie rasch Menschen Dinge tun und sagen, die wir vorher nicht für möglich gehalten hätten. Wir schnell das geht.

 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen:

Die Schweiz ist ein Rechtsstaat. Ein Rechtsstaat wahrt und schützt die Grundrechte der Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Rasse und Religion. Für diesen Rechtsstaat mussten wir über Generationen kämpfen. Er ist die Basis für Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Er ist die Basis für unser Land, auf der es seit 1848 seinen Platz auf diesem Planeten gefunden hat. 

Auf den ersten Blick richtet sich der Grillfest-Protest gegen die Fremden. Schlimm genug. Aber im Kern richtet er sich gegen alle, die nicht ganz dazu gehören. Gegen die Schwachen, gegen die Armen, gegen die Wehrlosen. Gegen jene, die man bekämpft, um bei den Oberen wohlgelitten zu sein und sich deren Schutz zu verdienen.

 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen:

Die Grundrechte sind nicht vom Himmel gefallen. Sie mussten seit der Gründung der modernen Schweiz Schritt für Schritt erkämpft werden. Genauso wie jeder noch so kleine soziale Fortschritt in unserem Land. 

Meine Eltern wuchsen in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Eltern väterlicherseits führten einen kleinen Hof in Pacht. Meine Grossmutter mütterlicherseits arbeitete als Fabrikarbeiterin in einer  Kerzenfabrik, nachdem sie zweimal einen Ehemann durch einen Unfall verloren hatte. Nur weil der Sohn beim Tod des zweiten Mannes schon fast erwachsen war, durfte sie die Kinder behalten. Sonst wären sie ihr weggenommen worden, wie Tausenden anderer Mütter auch.  

Das war die Armenpolitik von damals. Es sind keine hundert Jahre her. Alleinerziehenden Müttern und armen Familien wurde nicht geholfen. Ihnen wurden die Kinder weggenommen. Diese wiederum kamen auf Höfe, die oft ebenfalls bitterarm waren. Der Film „Der Verdingbub“ zeigt die dramatische Verstrickung zwischen arm und arm eindrücklich. Und am Rand des Armutsdramas standen sie mit verschränkten Armen. Jene, die mit Verachtung auf die Hungernden runterschauten. Und sich von diesen noch Geschenke geben liessen. Ihnen, den gnädigen Herren und Damen. 

Bis in die siebziger und achtziger Jahre wurden junge Menschen administrativ versorgt. Ihnen wurde ein liederlicher Lebenswandel vorgeworfen. Uneheliche Schwangerschaften oder sogenanntes Herumtreiben reichten vielerorts, um Jugendliche in Strafanstalten einzusperren, ohne Gerichtsverfahren, ohne Rechte. Es kam zu Zwangsadoptionen, Zwangskastrationen, Zwangssterilisationen. 

Alle wussten von diesen krassen Verletzungen von Menschenrechten hier in unserem Land. Aber viele schwiegen. Die Behörden und Machthabenden glaubten, das Recht der richtigen Moral auf ihrer Seite zu haben. Kirche, Bauernverband, Fürsorgebehörden und die allermeisten Politiker setzten ihre Vorstellung davon durch, wie man in diesem Land zu leben hatte. Alles, was diesen Vorstellungen nicht entsprach, wurde bekämpft und ausgegrenzt: Es war die Zeit der Versorgung nicht stromlinienförmiger Jugendlicher, es war die Zeit, als sozialdemokratische Lehrer ihre Stelle verloren, es war die Zeit der Fichen und Überwachungen. 

Dass wir uns dank unserem Engagement für Freiheit und Gleichheit aus diesem gesellschaftlich-moralischen Korsett befreien konnten, ist eine Leistung, auf die wir stolz sein können. Doch die Arbeit ist noch nicht fertig. 

Der Spaltpilz der Rechtschaffenheit schlummert tief in unserer Gesellschaft. Nach wie vor werden die Rechte jener in Frage gestellt, die von Sozialhilfe abhängig sind. Nach wie vor werden Eltern von Kindern, die auffällig sind, mit schrägen Blicken angeschaut. Nach wie vor sind wir weit davon entfernt, uns vorbehaltlos näher zu kommen und zu begegnen. 

250’000 Kinder leben gemäss Caritas in der Schweiz unter der Armutsgrenze. Das sind so viele, wie wenn wir acht oder neun grosse Fussballstadien mit armen Kindern füllen würden. Und das in der reichen Schweiz, in dem Land, wo die 200 Top-Unternehmen den Mitgliedern ihrer Geschäftsleitungen total 1,4 Milliarden Franken an Salären auszahlen. 

Während die 10 Top-Shots in der Schweiz durchschnittlich knapp eine Million Franken pro Monat einstreichen, verdienen 330’000 Menschen keine 4’000 Franken pro Monat. Diese Menschen arbeiten Vollzeit. Sie beraten uns beim Schuhkauf, schneiden unsere Haaren oder servieren uns das Feierabendbier.

 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen: 

Das müssen wir ändern. Am 18. Mai mit einem Ja zur Mindestlohn-Initiative und darüber hinaus mit einer hartnäckigen Politik für Gesamtarbeitsverträge. 

Wer in diesem Land arbeitet, verdient einen Lohn, von dem sie oder er leben kann. Er oder sie verdient aber auch einen Arbeitsvertrag, der Willkür verhindert und Berechenbarkeit schafft. Arbeit auf Abruf, kurze Kündigungsfristen, unklare Pflichtenhefte, erwartete Erreichbarkeit weit über die Arbeitszeiten hinaus sind das, was Menschen abhängig und unfrei macht. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen.

 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen: 

Souverän ist, wer sozial sicher ist. Genau das wollen jene verhindern, die am meisten über Souveränität sprechen. Sie wollen nicht souveräne, sondern fügsame Menschen. Menschen, die gegen oben kuschen und gegen unten treten. Menschen die Grillpartys gegen Asylsuchende machen statt sich für gerechte Arbeitsbedingungen und sichere Renten einzusetzen.  

Und wie überall auf der Welt gelingt dies den Oligarchen auch in der Schweiz immer wieder. Statt den Sorgen und Ängsten der Menschen entgegenzutreten und für sichere Löhne und bezahlbare Wohnungen zu sorgen, schüren sie zusätzliche Ängste. Ungelöste Probleme waren schon immer das politische Kapital der radikalen Rechten.

 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen: 

Nach dem 9. Februar stecken wir in grossen Schwierigkeiten. Eine knappe Mehrheit hat aus unterschiedlichen Gründen und Motiven Ja gesagt zur Abschottungsinitiative. 

In unserer Verfassung steht nun – unklar zwar, aber trotzdem deutlich – dass wir die Personenfreizügigkeit durch Kontingente ersetzen wollen. Eine knappe Mehrheit nimmt es also in Kauf, dass wir wieder zur Barackenschweiz werden. Eine Mehrheit nimmt in Kauf, das wir Menschen, die bei uns Arbeit suchen, ihrer fundamentalen Rechte berauben, sie entmenschlichen. Ich gebe es zu: Dies hat mich am Resultat am meisten geschockt und am meisten empört.

 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen: 

Eines ist klar: Wir werden das nicht zulassen. Wir werden nicht Hand bieten, dass Menschen, die wir als Arbeitskräfte rufen, wieder in Baracken hausen! Wir werden nicht Hand bieten, dass Kinder wieder vom Schulbesuch ausgeschlossen werden, weil ihre Eltern nicht legal mit ihnen zusammenleben dürfen. Wie bieten nicht Hand und wir werden es nicht zulassen. 

Wieso tut sich die Schweiz so schwer damit, sich an den Tisch der grossen europäischen Familien zu setzen? Wieso pocht sie auf Sonderrechte und beklagt sich über Diskriminierung? Woher kommt diese seltsame Mischung aus Sonderfall-Überheblichkeit und Minderwertigkeitskomplex? 

Ein Mitarbeiter der SP Schweiz, Peter Hug, hat kürzlich in einem Papier geschrieben: „Der Zweite Weltkrieg, sonst überall ein Trauma aus Gewalt und Grausamkeit, Schwäche und Niederlage, Verrat, Kollaboration und Völkermord, erwies sich für die Schweizer als Glücksfall für die nationale Kohäsion.“ Was also für Europa die Dimension einer Urkatastophe der Menschheit hat, ist in der Schweiz ein Referenzpunkt für Erfolg, Bestätigung und Identität. 

Die Antwort der Schweiz auf diese prägenden Jahre der jüngeren Weltgeschichte war die politische Isolation. Die Antwort Europas ist die heutige EU. 

Was für die Schweiz die direkte Demokratie und die Neutralität sind, sind für die EU der freie Personenverkehr und die Nichtdiskriminierung europäischer Staaten. Es sind die sinnstiftenden Pfeiler der jeweiligen Willensgebilde. 

Vergessen wir nicht: Geschlossene Grenzen. Selektiver Zugang ins Land, Sortieren der Menschen nach Wertigkeit. All das hat im Kontext der europäischen Geschichte eine enorme Bedeutung und einen enormen Stellenwert. Deshalb zu glauben, dass die EU-Mitglieder ausgerechnet der Schweiz dieses Aussortieren von Menschen mit unterschiedlichen Kategorien von Zuwanderern gewähren könnte, ist schlicht ignorant. 

Die EU ist die politische Antwort auf die beiden zerstörerischen Weltkriege des letzten Jahrhunderts. Sie hat dem Kontinent die längste Friedensperiode und eine starke wirtschaftliche Entwicklung gebracht. Die EU ist die politische Antwort auf eine Zeitepoche der geschlossenen Grenzen, der Diskriminierung und Vernichtung. 

Die Gegner der EU ignorieren die Geschichte, Für sie zählt nur das Geschäft. Sie wollen Freihandel ohne politische Rahmenbedingungen. „Wirtschaftlich vernetzt, aber politisch isoliert“, ist ihr Credo. . 

Sie wollen die EU nicht, weil die EU mittelfristig das Potential hat, tatsächlich ein politischer Raum zu werden. Weil sie das Potential hat, der Profitgier einiger Weniger Grenzen zu setzen. Weil sie Banken regulieren und Umweltstandards durchsetzen kann. Weil sie irgendwann die Finanztransaktionen besteuern kann und wird. Weil sie als politisch relevanter Raum von der Wirtschaft das Primat wieder abringen kann und vielleicht wird. Weil sie der Demokratie mehr Raum geben und das Kapital zähmen kann. Deshalb sind die Europa-Wahlen so wichtig, Und deshalb beteiligen wir uns daran.

Wir dürfen nicht nur eine buchhalterische Diskussion über unser Verhältnis zur EU führen. Wir müssen auch eine Diskussion über Identität, Geschichte und Herkunft führen. Wir sind Europäerinnen und Europäer, schlicht und einfach schon deshalb, weil wir keine Asiaten, Amerikanerinnen, Australier oder Afrikanerinnen sind.

 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen:

Die EU ist gegenwärtig so ziemlich das Gegenteil eines sozialdemokratischen Paradieses. Stimmt. Die Schweiz aber auch. Der Kanton Aargau auch. Nicht trotzdem, sondern deshalb engagieren wir uns. Weil wir der Wirtschaft das Primat abringen und es für die Politik zurückerkämpfen wollen. Weil wir daran glauben, dass wir das Schicksal der Länder und Menschen mit Politik verändert können. Weil wir mit Hoffnung und nicht mit Ängsten die Welt gestalten wollen. Deshalb stehe ich für eine soziale Schweiz in einem sozialen Europa ein.

Lasst mich zu Schluss nochmals zurückblicken: in Aarburg kommen Hunderte an ein Grillfest gegen Asylsuchende. Sie werden mit treuherzigem Blick den Kameras anvertrauen, dass sie nicht fremdenfeindlich seien, sondern nur aus Sorge um ihre Kinder für geordnete Verhältnisse in ihrem Quartier sorgen möchten. Und damit schon mal präventiv gegen Menschen kämpfen, die sie gar nicht kennen, die einfach nur von anderswo kommen, eine andere Sprache sprechen und in einer anderen Kultur aufgewachsen sind. Was, wenn nicht das, ist fremdenfeindlich?!

Es ist noch nicht lange her, als sich Autoritäten angemasst haben, allen ihre Vorstellungen eines korrekten Lebens aufzuzwingen.  Wer nicht spurte, wurde um seine Rechte beraubt. Dass dem heute für die meisten nicht mehr so ist, verdanken wir euch älteren Genossinnen und Genossen und all den zahlreichen Menschen, die in diesen entscheidenden Jahren für Freiheit und Gleichheit gekämpft haben. Dass Menschen aus sozialen Verhältnissen wie ich heute überhaupt eine Rolle in der Gesellschaft spielen und ein selbstbestimmtes Leben führen können, ist euer und deren Verdienst.

Wir danken und verneigen uns vor euch.

 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen:

Führen wir diesen Kampf weiter. Lassen wir nicht zu, dass Gratiswürste wichtiger werden als Menschenwürde. Engagieren wir uns am 18. Mai für anständige Löhne. Setzen wir uns im September für die öffentliche Krankenkasse ein. Treten wir im November gegen die Privilegien der Pauschalbesteuerung an und kämpfen wir nächstes Jahr bei den eidgenössischen Wahlen um jede einzelne Stimme. Wir sind es unseren Vorfahren schuldig. Aber auch der Zukunft.

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