Quelle: P.S. die linke Zürcher Zeitung, Beitrag von Andrea Sprecher
Es gibt vieles, das so alt ist wie die Menschheit, besonders aber die Lüge. Und dabei meine ich noch nicht einmal die grossen Betrügereien, sondern die eher kleinen. Soziologinnen und Soziologen wissen es ganz genau, beispielsweise dann, wenn sie nach der Häufigkeit von Fernsehkonsum und Beischlaf fragen. Dort werden sie mit schöner Regelmässigkeit umgekehrt proportional angelogen, so dass man den Eindruck gewinnen muss, dass das Fernsehen getrost abgeschafft werden könnte, da sich die grosse Mehrheit der Menschen in jeder freien Minute im Bett herumtreibt. Aber auch anderswo finden sich Lügen. Die einen haben das Mail ganz sicher nicht erhalten, die anderen wissen ehrlich nichts von der Doodle-Umfrage und das SMS – verschollen. Wir lügen uns ein wenig durch den Alltag, sozial anerkannt, es geht ja allen gleich. Und es ist ok.
Anderswo schmerzt es mehr, wie mir kürzlich bewusst wurde. Denn ich hatte ein bemerkenswert ehrliches Gespräch mit anderen Frauen, alles Mütter von kleinen Kindern. Das ist aussergewöhnlich, weil genau da ganz oft gelogen wird. Ich brauchte tatsächlich ziemlich lange, bis mir klar wurde, dass ich nicht die einzige sein kann, der nicht alles immer perfekt gelingt, und dass die, die das behaupten, nicht die Wahrheit sagen. Und es dauerte noch länger, bis ich feststellte, dass ich genauso lüge.
Manchmal spricht man mir Bewunderung aus, wie ich das schaffe, mit meinem Job und den Kindern und allem, was ich sonst noch tue. Dann freue ich mich. Und lasse die Frau, die mir das gesagt hat, im Glauben, dass es auch so ist. Dass ich das schaffe. Ich erzähle ihr nicht, dass ich jeden Tag mit pflotschnassen Haaren aus dem Haus renne, weil ich keine Zeit habe, mir eine Frisur zu basteln, weil ich ja noch in die Krippe muss und dann an die Sitzung, für die ich eigentlich schon zu spät bin. Ich sage ihr nicht, dass ich an meinem freien Tag mit den Kindern mehrheitlich gereizt war, weil ich mit dem Bébé auf dem Arm noch Mails zu beantworten versuchte, während der Mittlere, unbeobachtet, gerade mit dem Rüstmesser die Tischplatte gravierte. Ich sage ihr nicht, dass meine Happy Hour jene halbe Stunde ist, die ich abends mit meinem Mann und Netflix verbringe – wenn es gut läuft. Ich sage ihr nicht, dass last minute nicht einfach eine Macke ist, sondern schlicht die einzige verbliebene Methode, mit der ich meinen Berufsalltag bewältigen kann. Ich sage ihr nicht, dass ich oft das Gefühl habe, hüben wie drüben nicht zu genügen, dass eine Tramfahrt ganz mit mir allein und einem Kaffee gefühlsmässig ein Wellness-Wochenende ersetzt und das schlechte Gewissen meine treueste Freundin geworden ist. Ich sage ihr nicht, dass ich es eigentlich gar nicht schaffe.
Während diesem Gespräch mit den anderen Frauen tat ich es dann doch. Und stellte fest: Es geht allen gleich. Nicht einfach ähnlich, sondern wirklich ganz genau gleich. Und weil wir nicht damit aufhören, diesbezüglich zu lügen oder einfach nicht die volle Wahrheit zu sagen, meinen wir, wir seien allein und unser Alltag ein einziges Scheitern. Damit setzen wir die Messlatte höher, als sie jemals von jemandem erreicht werden könnte. Wir nähren das Bild und den Anspruch, dass man alles unter einen Hut bringen muss. Wenn ich am 14. Juni an den Frauenstreik gehe, dann will ich nicht nur Lohngleichheit. Ich will mehr. Ehrlichkeit. Man kann und soll nicht alles unter einen Hut bringen müssen. Unser Leben ist manchmal chaotisch, manchmal streng, manchmal nicht zu bewältigen und dann geht es doch. Vor allem aber ist es ok, genau so, wie es ist.