Eine Sicherheitspolitik, die der Zeitenwende Rechnung trägt, braucht drei Pfeiler:
Aktive Neutralität: Neutralität beginnt lange vor einem Kriegsfall. Wer nicht hinschaut, mit wem er Geschäfte macht, ist nicht neutral. Er finanziert im schlimmsten Fall Autokraten und ihre Aufrüstungsgelüste. Dieses Geschäftsmodell muss endlich ein Ende haben. Wer neutral sein will, für den müssen Menschenrechte die Grundlage seiner Wirtschaftsbeziehungen sein. Handel ohne verbindliche Menschenrechte darf es nicht mehr geben.
Zweitens muss die Schweiz auch über ihre Grenzen hinaus aktiv neutral sein. Sicherheit gibt es für Kleinstaaten nur, wenn das Recht gilt, nicht einfach das Recht des Stärkeren. Aktiv neutral zu sein, bedeutet, zur Anwältin von Völker- und Menschenrecht zu werden. Die letzten drei Jahrzehnte waren geprägt von einer Abwertung der UNO und der OSZE durch die Grossmächte. Die Schweiz muss ihren Einsitz im UNO-Sicherheitsrat nutzen, um die Rolle der UNO in der Welt wieder zu stärken. Sie sollte sich für eine ausreichende Finanzierung der UNO-Organisationen einsetzen und nach Kriegsende zu globalen Friedens- und Rüstungskontrollgesprächen einladen.
Echte Souveränität, europäisch und erneuerbar: Souverän ist nur, wer auch in der Krise Alternativen hat. Ist man von den Öl- oder Gaslieferungen von Autokraten abhängig, hat man das nicht. Echte Souveränität verlangt also eine sichere Energieversorgung mit einheimischen, erneuerbaren Energien in öffentlicher Hand. Was wir jetzt brauchen, ist eine regelrechte Energieeffizienz- und Solar-Anbauschlacht. Und Souveränität müssen wir für alle existenziellen Bereiche stärken. In der Gesundheits- und Medikamentenversorgung genauso wie in Digitalisierung und Industriepolitik. Die Zeiten des kurzfristigen Just-In-Time-Wirtschaftens ist vorbei. Wir brauchen wieder langfristige Strategien mit sicheren Lieferketten. Unsere kritischen Infrastrukturen (Stichwort Energie) und Kommunikationsnetze (Stichwort 5G) können wir nicht privaten oder staatlichen Akteuren aus China, den arabischen Autokratien oder aus den USA ausliefern, sondern brauchen europäische Lösungen.
Denn echte Souveränität gibt es für die Schweiz nur europäisch. Das gilt auch für die militärische Verteidigung. Bereits heute trägt die EU faktisch im Verbund mit der NATO die Hauptlast der militärischen Sicherheit der Schweiz. Klar ist: Die Abschaffung der Armee steht aktuell nicht auf der Traktandenliste. Genauso klar aber kann die NATO auch in Zukunft keine Option sein für die Schweiz. Vielleicht dann einmal vermehrte Kooperationen mit EU-Sicherheitsinstrumenten, das ist offen. Vorläufig aber kann sich die Schweiz anders solidarisch zeigen: Mit einem anständigen Kohäsionsbeitrag zur Stärkung der Demokratie im Osten Europas und mit mehr solidarischen Leistungen in der Asylpolitik. Und auch mit einer Abkehr von der Tiefsteuer-Dumpingpolitik, die am Ende die Fähigkeit der anderen europäischen Staaten schmälert, ihre Aufgaben zu finanzieren, auch im Bereich der Sicherheit.
Gelebte Solidarität gegen innen und aussen: Der Umbau der Energieversorgung und die Unterbringung der Flüchtlinge wird Kosten verursachen. Die Solidarität ist jetzt gross. Das kann auch so bleiben, wenn sich die Menschen von der Politik ernst genommen und respektiert fühlen. Mehr Respekt für die Menschen bedeutet mehr soziale Sicherheit. Wer eine Gesellschaft will, die dem Druck der Autokraten angstfrei trotzt und die weiter bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen, darf nicht gleichzeitig Angst um die Renten, den Job und die offenen Rechnungen zulassen. Sichere Arbeit, gute Löhne und Renten, zahlbare Krankenkassenprämien und Kinderbetreuung gehören zwingend zur inneren Sicherheitsarchitektur der Zukunft. Und diese Solidarität braucht es auch gegenüber anderen. Krieg, Migrationskrisen und Pandemie zeigen, dass auch unsere soziale Sicherheit immer mehr von globalen Ereignissen beeinflusst wird. Wer im nächsten Konflikt mit einem Autokraten echte Verbündete haben will, tut gut daran, sich aktiv, grosszügig und glaubwürdig um Armutsbekämpfung weltweit bemühen – und nicht immer die Profite der eigenen Konzerne vornan zu stellen.
Dieser Text erschien zuerst als Gastbeitrag im Tagesanzeiger am 11. April 2022