Europa am Ende? – Am Ende Europa!

Am 1. Mai singen wir mit alljährlicher Inbrunst den bewegenden Refrain der Internationalen, auch wenn wir schon lange nicht mehr an das „letzte Gefecht“ glauben. Aber die Aufforderung an die Völker Europas, auf die Signale zu hören und international zu handeln, ist heute dringender denn je, wenn auch mit einer ganz anderen Stossrichtung, als jener, die Eugène Pottier in der Pariser Kommune von 1871 mit seinem Liedertext meinte.

Die Signale aus der Politik sind entmutigend, die Einigkeit für internationale Lösungen bröckelt, die europäischen Institutionen sind erschüttert. Und über das Menschenrecht, das die Internationale zu erkämpfen verspricht, können die Flüchtlinge an den geschlossenen Toren Europas ihr eigenes Lied singen.

Europa geht es schlecht. Das mutige Projekt des Euro drohte in der Verschuldungskrise zu scheitern. Seither überlebt die europäische Währung nur dank der abenteuerlichen Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die die Strukturprobleme in die Zukunft verschiebt. Und die neue Bedrohung des imperialen Machtgehabes Moskaus in der Ukraine oder im Nahen Osten hat die Europäer nicht zu mehr Gemeinsamkeit geführt. Am 5. April war den holländischen Stimmbürgern der Denkzettel gegen Brüssel wichtiger als die Solidarität mit der Ukraine.

Paris rühmt sich zwar der deutsch-französischen Waffenbrüderschaft gegen den IS als Antwort auf den Terror im November, meldete sich aber im gleichen Atemzug vom europäischen Flüchtlingsproblem ab. Die humanitäre Haltung der deutschen Bundeskanzlerin – so der französische Ministerpräsident und Genosse Valls Ende Januar – sei zwar löblich, das Problem aber mögen die Deutschen doch bitte selbst lösen. Die Achse Berlin-Paris, auf die sich die Fortschritte europäischer Integration immer abstützen konnten, ist blockiert. Ebenso haben auch Ungarn, Polen und Österreich die europäische Solidarität in der Flüchtlingsfrage aufgekündigt. Und ob die Engländer nach dem 23. Juni überhaupt noch zur Union gehören, ist offen. 

Die europäische Krise gefährdet zwei zentrale europäische Errungenschaften, die für die Menschen im Alltag erlebbar sind: Offene Grenzen und die gemeinsame Währung.

Die europäische Krise gefährdet zwei zentrale europäische Errungenschaften, die für die Menschen im Alltag erlebbar sind: Offene Grenzen und die gemeinsame Währung. Dabei stellt heute vor allem die neue Völkerwanderung das Erreichte in Frage.

Brüssel und die europäischen Regierungen, allen voran Berlin, verfolgen dabei drei Ziele: den Zustrom der Flüchtlinge auf ein innenpolitisch verkraftbares Mass zu reduzieren, die Binnengrenzen der EU offen zu halten, das heisst Schengen zu retten, und die internationalen Verpflichtungen, die Menschenrechte und vor allem die Genfer Flüchtlingskonvention nicht explizit zu verletzen.

Diese Gratwanderung könnte gelingen, aber nur zu einem hohen Preis: Der Deal mit den Türken verlangt massive finanzielle Zugeständnisse und eine hohe Toleranz gegenüber der Verletzung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei. Und Athen muss bald mit finanzpolitischer Nachsicht belohnt werden. Nur so kann das Einfallstor zur Balkanroute geschlossen und die EU-Aussengrenze an der Süd-Ostflanke abgesichert werden. Gleichzeitig versucht man durch Rückführungsabkommen den Zustrom an der Südflanke einzudämmen.

Wir glaubten an ein Europa, das durch den Ausbau gemeinsamer Institutionen und durch die geographische Erweiterung immer enger zusammenwächst. Wir glaubten an den unaufhaltsamen Fortschritt hin zu einer Wertegemeinschaft, die ihr „wir“ in der gemeinsamen europäischen Identität begründet. Diese Vision ist heute einer Ratlosigkeit gewichen, die ein deutscher Politiker im privaten Gespräch resigniert als «Fahren auf Sicht» bezeichnet hat. Und wenn – so der deutsche Aussenminister Steinmeier an der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar – in einem Jahr die EU noch die gleiche wie heute ist, haben wir viel erreicht.

Probleme führen – anstatt wie bisher zu weiterer Integration – zu nationalistischen Reflexen der Abgrenzung.

Der Befund ist fatal: Probleme führen – anstatt wie bisher zu weiterer Integration – zu nationalistischen Reflexen der Abgrenzung. Politik ist nicht mehr vom Streit zwischen rechts und links geprägt, sondern vom Vertrauensverlust eines wachsenden Teils der Bevölkerung gegenüber den etablierten Institutionen und der «Obrigkeit» schlechthin. Dem Groll gegen die «Brüsseler Bürokratie» und dem Hass auf die «Lügenpresse» ist mit dem rationalen Argument gesamteuropäischer Lösungen nicht beizukommen. In Deutschland ist die SPD in der Wählergunst auf einen historischen Tiefststand gefallen.

Die Gewinner sind die Rechtspopulisten, die mit einfachen Antworten die Verunsicherung bedienen und sich an der Urne vom Volkswillen bestätigt fühlen. In Ungarn und Polen sind sie bereits an der Macht, höhlen den Rechtsstaat aus und setzen sich über europäische Prinzipien hinweg. Auch in Frankreich, Tschechien und Holland verliert Europa als Wertegemeinschaft seine Basis. Und wenn der luxemburgische Aussenminister Jean Asselborn, wie vor einigen Tagen, davor warnt, das Volk über europäische Fragen entscheiden zu lassen, wird deutlich, wie weit sich europäische Politik von der Bevölkerung entfernt hat.

Ich sehe das unmittelbare Ziel nicht im Beitritt, sondern in der Rettung und im Ausbau unserer bilateralen Vertragsbeziehung mit Brüssel, die heute in Gefahr ist.

Im Wahlkampf hat man mich wiederholt gewarnt: «Sag nur nicht, dass du für den EU-Beitritt bist». Ich sagte es trotzdem und stehe weiterhin dazu. Und das Etikett «Euroturbo» lehne ich nur deshalb ab, weil ich das unmittelbare Ziel nicht im Beitritt sehe, sondern in der Rettung und im Ausbau unserer bilateralen Vertragsbeziehung mit Brüssel, die heute in Gefahr ist. Erst wenn es uns gelingt, diese Beziehung wieder auf eine stabile Grundlage zu stellen, stellt sich die Frage, ob wir weiterhin auf eine wirkliche Mitsprache in der europäischen Innenpolitik verzichten wollen, um die Illusion der formalen Unabhängigkeit zu bewahren, oder ob wir dann der Union beitreten wollen, mit all ihren Widersprüchen, Zwängen und Unzulänglichkeiten.

Dabei geht es nicht um die Frage, ob die EU gut oder schlecht ist, sondern nur um die Frage, wie regeln wir unsere Beziehungen mit der Umwelt, mit der wir aufs engste verflochten sind und von der wir abhängen. Es geht auch nicht um die Frage, ob wir mit diesem Entscheid nicht besser abwarten sollten, bis klar wird, wie sich die EU in Zukunft weiter entwickelt.

Für den wahrscheinlichen Fall aber, dass die Einigung mit der EU nicht gelingt, hat der Bundesrat die einseitige Schutzklausel angekündigt, das heisst den Vertragsbruch.

Vielmehr setzt uns der Zuwanderungsartikel in der Verfassung unter Zugzwang. Der Bundesrat hofft zwar noch auf eine einvernehmliche Absprache mit Brüssel, um dem Verfassungsauftrag gerecht zu werden, ohne den Freizügigkeitsvertrag zu verletzen. Für den wahrscheinlichen Fall aber, dass dies nicht gelingt, hat der Bundesrat die einseitige Schutzklausel angekündigt, das heisst den Vertragsbruch. Das Bundesgericht hat schon kurz zuvor dagegen erklärt, dass es für die Gültigkeit des Vertrags entscheiden würde.

Deshalb drängt sich in der Europafrage sehr bald ein grundsätzlicher Entscheid auf: Entweder kündigen wir das Personenfreizügigkeitsabkommen, was – ausser der SVP – niemand will. Dieser Schritt würde unser Verhältnis zur EU blockieren, die Wirtschaft verunsichern und zu wachsender Arbeitslosigkeit führen. Oder wir ändern nochmals die Verfassung. Dafür gewinnen wir aber die Mehrheit – auch der Kantone – nur, wenn wir die inländischen Arbeitnehmer besser schützen und das ungenutzte Fachkräftepotential besser ausbilden und mobilisieren.

Zu Europa gibt es keine Alternative. Unsern Zielen bleiben wir nur treu, wenn wir im nächsten Gefecht konsequent die gemeinsamen Interessen mit der politischen Mitte verfolgen, um unser weltoffenes Land gegen die Abschottungspatrioten der SVP zu verteidigen.

Text ist zuerst erschienen im P.S. vom 15. April

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