Europapolitik: Lassen wir uns nicht verwirren!

In den vergangenen Wochen sind in Sachen Europapolitik viele Dinge durcheinander geworfen worden. Das EU-Rahmenabkommen, die Personenfreizügigkeit und die Anti-Menschenrecht-Initiative, über die wir am 25. November abstimmen werden. Dabei ist einige Verwirrung entstanden. Nicht einfach so, sondern weil sie von rechts gezielt gestiftet wird. Höchste Zeit für eine einordnende Auslegeordnung.

Das Rahmenabkommen

Seit Jahren verhandeln die Schweiz und die EU über das sogenannte Rahmenabkommen. Darin soll geregelt werden, wie sich die bilateralen Verträge dynamisch an verändertes EU-Recht anpassen. Das heisst: damit nicht bei jeder Entwicklung des EU-Rechts die jeweiligen Verträge neu ausgehandelt werden müssen – oder die Schweiz «autonom nachvollzieht» – sollen Mechanismen definiert werden, die das automatisieren.

Lange zögerte und verzögerte die Schweiz, lange machte die EU mit. Doch seit einiger Zeit macht sie Druck. Das hat durchaus auch binnen-europäische Gründe. Der A-la-carte-Service für das Nicht-Mitglied Schweiz weckte Begehrlichkeiten bei Mitgliedländern, sich individuell aus gewissen Regeln auszuklinken. Und da ist ja noch der Brexit.

Im Sommer machte dann Neo-Aussenminister Ignazio Cassis in einem flapsigen Radio-Interview die Flankierenden Massnahmen (FlaM)zur Personenfreizügigkeit unvermittelt und ohne Not zur Verhandlungsmasse mit der EU. Damit verletzte er bewusst die vom Gesamtbundesrat definierten «roten Linien», die besagen: Die FlaM sind nicht Teil eines Rahmenabkommens.

Der Bundesrat pfiff ihn zurück, beauftragte aber gleichzeitig Noch-Volkswirtschaftsminister Johannes Schneider-Ammann damit, mit den Sozialpartnern und den Kantonen Verhandlungen zu führen. Und machte damit alles noch viel schlimmer. Denn die markt-radikale Entourage von BR Schneider-Ammann verschickte ein Diskussionspapier, in dem gleich alle flankierenden Massnahmen zur Disposition gestellt wurden. Also nicht «nur» die mittlerweile sprichwörtliche 8-Tage-Regel, sondern alles von der Kautionspflicht, den Sanktionen gegen fehlbare Arbeitgeber über die Bekämpfung der Scheinselbständigkeit bis hin zur Qualität und Quantität der paritätischen Arbeitskontrollen.

Das ist ein Totalangriff auf die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit. Und dieser Angriff kommt nicht nur aus der EU, sondern auch aus der Schweiz. Denn es ist nicht einfach «die» EU, die Druck macht auf den Schweizer Arbeitnehmendenschutz, sondern auch die Schweizer Rechtsparteien und Teile der Arbeitgeber. Ihnen sind die Flankierenden ein Dorn im Auge, seit sie im Rahmen der Personenfreizügigkeit eingeführt worden sind.

 

Die Personenfreizügigkeit

Die Personenfreizügigkeit mit den FlaM ist eine Erfolgsgeschichte. Die FlaM sind die fortschrittlichste Methode zum Schutz der Schweizer Arbeitsbedingungen und der Schweizer Löhne. Seit dem historischen Deal zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und Linken können die Gesamtarbeitsverträge (GAV) leichter allgemeinverbindlich erklärt werden. Es gibt mehr verbindliche Mindestlöhne, und Lohnkontrollen sorgen dafür, dass die Stellung der Lohnabhängigen gestärkt wird.

Der Ab­deckungs­grad von Arbeitnehmenden, die Gesamt­arbeitsverträgen unterstellt sind, stieg zum Beispiel zwischen 2003 und 2015 von 45 auf 52 Prozent. Heute steht also eine von zwei Personen unter einem GAV-Schutz. Und dies, obwohl die Bedingungen für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung in der Schweiz im internationalen Vergleich immer noch zu restriktiv sind.

Das alles ist der Rechten und Teilen der Arbeitgeber ein Ärgernis. Ende Januar liess Magdalena Martullo-Blocher an einer SVP-Medienkonferenz die Maske endgültig fallen und sagte, man müsse die Personenfreizügigkeit auch wegen den flankierenden Massnahmen kündigen, weil diese den Gewerkschaften Einfluss gäben. Es ist deshalb scheinheilig, wie die SVP-Politiker bei der Übergabe der Unterschriften zur Kündigungs-Initiative plötzlich nur noch vom Lohnschutz sprachen.

Ganz grundsätzlich ist Personenfreizügigkeit im Interesse der Lohnabhängigen. Sie verhindert diskriminierende bis menschenfeindliche Statute und Kontingente und damit auch Druck auf die Arbeitsbedingungen der Einheimischen. Damit die Personenfreizügigkeit aber nicht von Arbeitgebern missbraucht wird, braucht es flankierende Massnahmen. Wir müssen diese nicht nur verteidigen, sondern auch weiterentwickeln.

 

Die Kontingentspolitik

Manchmal hilft es, ein bisschen zurückzuschauen, bevor man mit einem falschen Geschichtsbild die Zukunft an die Wand fährt. Schauen wir also zurück, wie der Schweizer Arbeitsmarkt im vergangenen Jahrhundert gesteuert worden ist – und mit welchem Erfolg und mit welchen Folgen für die Unternehmen und die Lohnabhängigen.

Bis weit ins 19. Jahrhundert war die Schweiz ein Auswanderungsland. Ein Land von «Wirtschaftsflüchtlingen». Die Abschottung des ­Arbeitsmarktes war kein Thema. Nach der Gründung der modernen Schweiz 1848 war die offizielle Migrationspolitik sehr offen. Die damalige weitgehende Personenfreizügigkeit in Europa war das Resultat von bilateralen Verträgen. Erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges änderte sich die Schweizer Migrationspolitik. Und in der Zwischenkriegszeit kamen die nationalistischen und fremdenfeindlichen Töne auf.

Ab 1931 hatte das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern (ANAG) als Ziel die Verhinderung der «Überfremdung» und der «dauerhaften Einwanderung». Bereits damals formulierte der Bundesrat, was noch heute Politik der Rechten ist: «Gegen die Zuwanderung von Ausländern gibt es nichts einzuwenden. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass sie sich nicht in der Schweiz niederlassen wollen.»

In den Nachkriegsjahren und dem Wirtschaftsaufschwung bis zur Ölkrise vervielfachte sich der Bedarf an «billigen» unqualifizierten Arbeitenden in der Schweiz. Vor allem in den Fabriken und auf dem Bau. Die Ausländerpolitik stellte sich ganz in den Dienst der Unternehmer. Möglichst rechtlose Immigrantinnen sollten möglichst unkompliziert und schutzlose so lange engagiert werden können, wie es den Firmen passte. Um zu verhindern, dass die Arbeitenden aus dem Ausland sich heimisch fühlten, wurde das Konzept der «rotierenden Zuwanderung» erfunden. Obwohl die unterschiedlichen Kontingente in immer kürzeren Abständen angepasst wurden, scheiterte das Konzept grandios.

Die Kontingentspolitik hat keines der Ziele erreicht, die man mit ihr erreichen wollte:

  • Die Zuwanderung begrenzen
     
  • Die Wirtschaft mit genügend und den richtigen Arbeitskräften zu versorgen

Stattdessen hat sie viel menschliches Leid angerichtet und der wirtschaftlichen Entwicklung geschadet:

  • Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern wurden unwürdig behandelt, von der sanitarischen Musterung beim Grenzübertritt über schikanöse Behandlung durch übergriffige Arbeitgeber bis hin zum Verstecken in Schränken, Estrichen und Kellern.
     
  • Der Kampf um die Kontingente war für die Wirtschaft ein enormer bürokratischer Aufwand – und liess die Schwarzarbeit explodieren.
     
  • Alle Löhne in der Schweiz unter kamen unter Druck – jene von einheimischen Arbeitenden wie auch jene von Arbeitenden unter den unterschiedlichen Arbeitsstatuten.

 

Erkenntnisse I:

Das Beharren von Gewerkschaften und SP auf wirksamen Schutz der Schweizer Arbeitsbedingungen ist keine unheilige Allianz mit der SVP. Der SGB ist nicht die «neue Auns von links».

Das Nein der SVP zu den bilateralen Verträgen im Allgemeinen und der Personenfreizügigkeit im Besonderen ist nationalistisch und im Kern arbeitnehmerfeindlich.

Die SVP und ihre Verbündeten in den Arbeitgeber-Verbänden wollen zurück zum unmenschlichen und untauglichen Kontingentsystem. Das würde Lohndruck für alle in der Schweiz Arbeitenden bringen – unabhängig von Wohnsitz und Aufenthaltstitel.

Die Absage der Gewerkschaften und der SP an Verhandlungen zum Abbau des Lohnschutzes dagegen ist im Interesse aller Arbeitnehmenden in der Schweiz – unabhängig von Nationalität und Wohnort.

 

Erkenntnisse II

Die Auseinandersetzung um das Rahmenabkommen ist keine zwischen «der» Schweiz und «der» EU. Es ist eine zwischen Kapital und Arbeit. Arbeitgeber und ihre Politiker in der EU wie in der Schweiz wollen die Arbeitnehmendenrechte schwächen. Die Marktradikalen in der EU und Frau Martullo-Blocher sind engste Verbündete in diesem Klassenkampf von oben.

  • Die «rote Linie» sind nicht 8, 6 oder 4 Tage, die rote Linie ist «Schweizer Lohnschutz gehört nicht in ein Rahmenabkommen». Das hat der Bundesrat versprochen, und daran soll er sich halten. Ohne Schutz der Schweizer Arbeitnehmendenrechte hat der bilaterale Weg keine Chance. Das zeigen alle europapolitischen Abstimmungen seit dem EWR-Nein im Jahr 1992. Das hauchdünne ja zur sogenannten Masseneinwanderungsinitiative war auch eine Folge davon, dass sich BR Schneider-Ammann und die Arbeitgeber geweigert haben, im Vorfeld griffigere FlaM zu erarbeiten.
     
  • Die Personenfreizügigkeit ist eine Errungenschaft der Lohnabhängigen. Aber nur mit flankierenden Massnahmen. Diese sind eine Erfolgsgeschichte. Wir müssen sie ausbauen, nicht schwächen. Die flankierenden Massnahmen sind ein nichtdiskriminierender Schutz und bringen Verbesserungen für alle Arbeitnehmenden. Die flankierenden Massnahmen schützen unsere Arbeitsbedingungen besser, als Kontingente und Diskriminierungen es je konnten und können.
     
  • Die Selbstbestimmungsinitiative ist eine Anti-Menschenrechtsinitiative und hat nichts mit Lohnschutz und Arbeitnehmendenrechten zu tun.

Die Lehre aus Geschichte und Gegenwart heisst: Hände weg von den flankierenden Massnahmen. Wir brauchen mehr davon. Hände weg vom Schweizer Schutz für Schweizer Löhne. Wir brauchen mehr davon. Keine Rückkehr zum untauglichen Kontingentsystem. Keine Rückkehr zum unmenschlichen Saisonnierstatut.

Lassen wir uns nicht verwirren.

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