Der 1. Mai ist unser Tag des Kampfes für die Rechte und die Würde der Arbeitnehmenden – ein internationaler Feiertag, der 2014 zum 124. Mal weltweit begangen wird. Die Inhalte, die den 1. Mai prägen, sind zentral und nach wie vor aktuell: Fairness, Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, Solidarität, gute Arbeitsbedingungen, Rechte am Arbeitsplatz und die Menschenrechte. Diese Werte zählen mehr und sind nachhaltiger als die Gier der neoliberalen Manager nach dem schnellen Geld.
Wir erinnern heute an die schwierigen Bedingungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter in der ganzen Welt und setzen uns weltweit für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen ein. Immer wieder kommen Arbeitnehmende, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter bei ihrem Einsatz für Arbeitsrechte zu Schaden, manche bezahlen diesen Einsatz mit dem Leben. Konkret kenne ich aus persönlichen Gesprächen die Situationen von Gewerkschaftsaktivistinnen und -aktivisten im Arbeitskonflikt in den Nestlé-Werken in Bugalagrande in Kolumbien. Sie werden schikaniert, bespitzelt und bedroht und letztes Jahr gab es sogar Ermordungen einzelner Mitglieder durch Paramilitärs. Wir hatten die Möglichkeit mit einem Gewerkschaftsvertreter zu sprechen und haben in der Folge auch das Gespräch mit der Nestlé-Spitze in der Schweiz gesucht. Der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne darf nicht behindert und sabotiert werden.
Der 1. Mai ist für uns auch ein Tag der internationalen Solidarität für die Arbeitskämpfe rund um den Globus. Nach diesem Blick in die Welt – der Blick zu uns. Das ist nötig, denn auch bei uns gibt es Skandale und Handlungsbedarf. Die Lohnschere geht immer weiter auf und für die tiefen Einkommen leider auch nach unten. Einkommen und Vermögen sind immer ungleicher verteilt. So besitzen etwa 2,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung die Hälfte des Vermögens.
Darüber will ich heute zu Ihnen sprechen. Am schweizerischen 1. Mai wird unter anderem auch mit „Gute Arbeit. Mindestlohn“ für die Mindestlohnabstimmung vom 18. Mai geworben. Die Lohnfrage steht schon länger im Zentrum. Die Lohnschere geht immer weiter auf. Anfang Woche wurde die schweizerische Lohnstrukturerhebung 2012 veröffentlicht. Die Entwicklung ist erschreckend und bedenklich. Die obersten 10 Prozent verdienten 2012 gegenüber 2010 9901 Franken mehr, während dem die tiefsten 10 Prozent 286 Franken pro Jahr weniger verdienen. Das schockiert und ist im höchsten Mass verwerflich. Oben werden unanständige Abzockerlöhne ausbezahlt und auf der anderen Seite kommen Arbeitnehmende trotz Vollzeiterwerb kaum über die Runden. Selbst die Debatte und das Ja zur Abzockerinitiative haben diese Spitzensaläre nicht bremsen können. Damit sich für die Tieflohnbezügerinnen und Tieflohnbezüger endlich etwas ändert, kann das Schweizer Volk mit einem Ja zum Mindestlohn am 18. Mai vorwärts machen.
Dass in der Schweiz rund 330’000 Menschen in den Tieflohnbranchen trotz guter Arbeit kaum vom Lohn leben können, ist eines reichen Landes wie der Schweiz nicht würdig. Der Verfassungsgrundsatz, dass für die gleiche Arbeit der gleiche Lohn bezahlt werden muss, ist bei weitem nicht umgesetzt. Immer noch verdienen Frauen rund ein Viertel weniger als Männer – für die gleiche Arbeit. 37,6 Prozent dieser Ungleichheit ist nicht erklärbar. Die 50er Note für Frauen ist nur 41 Franken wert.
Gute Arbeit, faire Löhne und genug zum Leben zu haben – das alles hat viel miteinander zu tun. Ein fairer Lohn garantiert bessere Arbeit, spornt an. Er führt zu mehr Sicherheit für alle: Die Arbeitnehmenden, ihre Familien – schliesslich aber auch für die Arbeitgebenden. Denn Arbeitnehmende, denen es besser geht, sind zuverlässigere Arbeitskräfte, sie sind weniger krank und fehlen weniger. Die Arbeitsqualität steigt.
Zwei wichtige Ereignisse prägen derzeit die schweizerische Lohn- und Arbeitsmarkt-Debatte. Die Folgen der knappen Zustimmung am 9. Februar zur Masseneinwanderungs-Initiative und die Mindestlohninitiative. Der Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungs-Initiative hat gezeigt, wie wichtig die Lohnfrage und die Arbeitsbedingungen sind – das habe ich in den vielen Gesprächen und Auftritten immer wieder gehört und gespürt. Die Umsetzung dieser Initiative muss zwingend zu mehr und besserem Schutz für die Arbeitnehmenden, deren Arbeitsbedingungen und Löhne führen und darf nicht zur Aushebelung der flankierenden Massnahmen missbraucht werden. Die Angst um den Arbeitsplatz, die Angst vor Lohndruck ist gross. Gerade hier am Rhein, an der Grenze – und ich nehme an das ist auf beiden Rheinseiten spürbar – ist der Druck riesig. Und er wird gnadenlos auf die Arbeitnehmenden weiter gegeben.
Wir fordern eine Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative, die die Bilateralen Verträge nicht gefährdet, denn diese sind für den Wirtschafts- und Arbeitsstandort Schweiz unerlässlich. Unter keinen Umständen werden wir eine Wiedereinführung eines Saisonnierstatuts akzeptieren, das wäre ein riesiger Rückschritt ins arbeitspolitische Mittelalter mit rechtlosen „Knechten“, die zwar hier schuften dürfen, denen das Recht, mit ihren Familien zusammen zu leben, aber verwehrt wird.
Derzeit wird oft das Zitat von Max Frisch aus dem Vorwort zu Alexander J. Seilers „Siamo italiani / Die Italiener“ von 1965 verwendet. Auch ich bediene mich dieses Zitats: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen“ . Doch wesentlich sind auch die Sätze vorher und nachher. Denn er zeigt die Mentalität, die auch heute noch in diesen Köpfen vorherrscht.
„Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich.“
Doch es ist auch Gebot der Stunde, dafür zu sorgen, dass Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle in unserem Land würdig sind. Die flankierenden Massnahmen zum Schutz unserer Löhne und damit zum Schutz unserer Arbeitnehmenden sind unerlässlich. Wir wehren uns gegen jegliche Angriffe von rechts, diese zu beschneiden. Der schweizerische Bundesrat hat das zum Glück erkannt und Ende März die flankierenden Massnahmen bestätigt und erste zusätzliche, wenn auch noch zu zaghafte Massnahmen ergriffen. Er verstärkt die Wirkung der Solidarhaftung, indem er die Bussen von 5000 auf maximal 30’000 Franken erhöht. Noch zögert er, das Quorum für die Allgemeinverbindlichkeit von GAVs zu senken. Eine offene (Europa-)Politik gehört aber meines Erachtens genauso dazu.
Das beste Mittel gegen Lohndumping ist aber ein klar festgelegter Mindestlohn.
Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter stossen immer wieder auf skandalös tiefe Löhne und auf ausbeuterische Arbeitsverhältnisse. Mickrige 12.50 Franken verdient man für die Gemüseernte bei Chicorée in Marbach, lausige 14.50 Franken in der Verpackungsindustrie in Rüthi SG. Die jüngsten Skandal-Tieflöhne kommen von der Eugster/Frismag, der Kaffeemaschinenherstellerin. Gerade mal 2650 Franken Monatslohn gibt es für einen Mitarbeiter nach 10 Jahren Arbeit, und das ist leider kein Einzelfall.
Bei solchen Zuständen hilft die Freiwilligkeit nicht mehr. Mit Vernunft kommt man nicht weiter und es ist geradezu zynisch und schnoddrig, wenn Arbeitnehmende, die darauf hinweisen, dass ihnen der Lohn nicht zum Leben reicht, ans Sozialamt verwiesen werden.
Massnahmen zum Schutz unserer Löhne sind absolut wichtig, auch für das Gewerbe. Denn Lohndumping schadet denjenigen Firmen, die anständige Löhne zahlen und gegenüber Lohndumpern nicht mehr konkurrenzfähig sind. Lohndumping setzt die fairen Unternehmer unter Druck und das ist doch – das möchte ich auch betont haben – der Grossteil der Firmen.
Letztes Jahr wurde hier am 1. Mai, so habe ich es den Zeitungsberichten entnommen, einiges zur Sozialpartnerschaft gesagt. Auch ich kann betonen: Die Sozialpartnerschaft ist wichtig und hat viel bewirkt, es gibt Branchen mit einem allgemeinverbindlichen GAV, der einen Mindestlohn vorsieht und es ist vorwärts gegangen. Darum will die Mindestlohninitiative ja auch die Sozialpartnerschaft stärken. Das ist nötig, denn in der Schweiz untersteht nur rund die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse einem GAV. Und das ist viel zu wenig. Gerade die neuen Berufe und der Dienstleistungssektor sind kaum durch GAVs abgedeckt. Also gerade in den Tieflohnbranchen, in den typischen Frauenberufen, funktioniert die Sozialpartnerschaft eben nicht. Etwa die Schuhbranche weigert sich vehement, die Löhne anzuheben. Die gewerkschaftliche Forderung, einen Normalarbeitsvertrag mit Mindestarbeitsbedingungen festzusetzen, hat die St. Galler Regierung wegen Nicht-Zuständigkeit – wie eine heisse Kartoffel – an die Bundesstellen weitergereicht.
Und auch der letztes Jahr erneuerte GAV der MEM-Branche wurde erst nach hartem Ringen geschlossen. Ich bin überzeugt, dass Mindestlöhne dort nur auf Druck der Mindestlohninitiative festgelegt worden sind.
Noch vor dem 18. Mai ist klar: Die Mindestlohninitiative ist wohl diejenige Initiative mit der grössten Vorauswirkung. Notorische Tieflohnzahler im Verkauf, wie Lidl, Bata, H&M, die sich standhaft weigern mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, haben ihre Löhne angehoben und zwar auf 4000 Franken monatlich.
Damit zahlen diese Firmen fairere Löhne – für eine anstrengende Arbeit. Sei es im Verkauf, im Gastgewerbe oder auch im Gartenbau. Dort wird harte Arbeit verrichtet, bei der man den ganzen Tag auf den Beinen ist und streng arbeitet. Und davon soll man auch einigermassen anständig leben können.
Der Mindestlohn von 4000 Franken ist darum mehr als gerechtfertigt. Denn es kann doch einfach nicht sein, dass man ein volles Pensum arbeitet und davon nicht leben kann. Wenn man dann vom Arbeitgeber auf die Sozialhilfe verwiesen wird, ist das voll daneben. Gewinne den Privaten – die Verluste, respektive die Kosten dem Staat. Und Gewinne werden in diesen Branchen durchaus auch satte gemacht – so sind etwa die Besitzerfamilien von Aldi, Zara oder Eugster/Frismag schwerreich geworden.
Und dass der Staat zahlt, zeigen die Antworten auf einige politische Vorstösse im Vorfeld der Abstimmung. Die Antwort auf eine SP-Interpellation im Wiler Stadtparlament ergab, dass die Stadt Wil 44 Personen mit Tieflöhnen mit jährlich insgesamt 105‘600 Franken unterstützen muss (Erhebung per 1.11.2013). Vier von ihnen verdienen sogar unter 14 Franken Stundenlohn. Mit einem Mindestlohn von 4000 Franken pro Monat ergäben sich in der Sozialhilfe schweizweit Einsparungen von jährlich rund 100 Millionen Franken. Doch neben der finanziellen Seite für den Staat und die Steuerzahlenden gibt es eben auch eine menschliche Seite.
330’000 Menschen in der Schweiz arbeiten zu Löhnen unter 4000 Franken – zum Teil massiv darunter. Zwei Drittel sind Frauen, rund 70 Prozent haben eine abgeschlossene Berufslehre hinter sich und sind über 25 Jahre alt. Der Mindestlohn von 4000 Franken führt zu einem etwas besseren Leben für sie. Sie müssten nicht mehr ständig jeden Franken umdrehen und sich fragen, woher sie das Geld für den Schulausflug des Kindes oder die Zahnarztrechnung nehmen sollen oder wie sie die neuen Winterstiefel bezahlen wollen, von einem Ausflug oder Ferien können sie nur träumen.
Wer arbeitet und dennoch auf Sozialhilfe angewiesen ist, dessen Leistung wird zu wenig gewürdigt. Ich habe es erlebt, wie schwierig für viele der Gang zum Sozialamt ist – in 12 Jahren in der Sozialbehörde Wil, 8 Jahre davon als Sozialvorsteherin, habe ich viele Gespräche geführt und die Scham aber auch die Verzweiflung gespürt. Und ganz viele suchen sich gar nicht erst die Unterstützung, weil sie sich schämen, pumpen ihre Eltern an oder verschulden sich.
Solche Verhältnisse sind einem reichen Land wie der Schweiz nicht würdig. Wir können uns anständige Löhne, einen Mindestlohn von 4000 Franken leisten. Gerade mal um 0,4 Prozent würde die Gesamtlohnsumme ansteigen. Doch die Wirtschaft droht wieder einmal, und das kennen wir schon zur genüge. Arbeitsplätze gingen verloren, Firmen würden Arbeiten auslagern. Studien zeigen, es gibt keinen nachweisbaren und klaren Zusammenhang zwischen der Einführung von Mindestlöhnen und dem Verlust von Arbeitsplätzen. Wer kann, hat längst Arbeitsplätze ins Ausland verlagert und Prozesse werden dauernd optimiert, das hat mit der Mindestlohninitiative gar nichts zu tun. Doch gerade Dienstleistungen können gar nicht verlagert werden. Und diese würden mit dem Mindestlohn nur unwesentlich verteuert. Ein Haarschnitt kostet dann ein paar Franken mehr. Bei 80 Franken Durchschnittspreis, wären es 1.50 Fr. mehr. Oder wenn der Café im Restaurant 10 Rappen mehr kostet – kaum ein Grund ihn nicht mehr zu trinken. Das ist alles reine Panikmache.
Doch der Gegenwert – ein besseres, anständigeres Leben für die Arbeitnehmenden – ist viel mehr wert. Gerade Menschen mit tiefen Löhnen müssen ihr Geld ausgeben, sie können es gar nicht auf die hohe Kante legen. Sie schaffen damit also auch neue Kaufkraft.
Wenn dann vom sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler und IHK-Direktor Kurt Weigelt argumentiert wird, die Menschen seien ja gar nicht auf einen höheren Lohn angewiesen, weil sie „Zweitverdiener“ seien, beleidigt er insbesondere Frauen, aber auch Männer, die sich für wenig Lohn abrackern. Oder wenn etwa der Schweizer Bauernpräsident Markus Ritter argumentiert, sein Betriebshelfer hätte dann ein zu hohes frei verfügbares Einkommen, wenn er 22 Franken Stundenlohn bekäme – dann macht mich das wütend. Wer während 55-Stunden pro Woche auf dem Hof „chrampft“, soll er nicht auf einen rechten Lohn kommen? Das ist ein Hohn.
Mit dem JA zum Mindestlohn in der Schweiz schaffen wir bessere Lebensbedingungen für 330’000 Arbeitnehmende – und ihre Familien. Das ist wichtig und muss darum unterstützt werden. Vielen Dank.