Wir schreiben das Jahr 1935. Ein mittelloses 18-jähriges Mädchen ist schwanger. Der Bursche, mit dem es sich eingelassen hat, weigert sich, die Vaterschaft anzuerkennen. Die junge Frau muss ihr Kind auf der Gemeinde zur Welt bringen und wird unter Vormundschaft gestellt. Als der Knabe in die Pubertätsjahre kommt, erachten es die Behörden als das Beste, den «ungezogenen Goof» an einen Bauernbetrieb zu verdingen, wo der Bub als billige Arbeitskraft verwendet, geschlagen und wahrscheinlich auch sexuell missbraucht wird.
Ein Beispiel unter Abertausenden. Bis in die 1960er Jahre mussten auch hierzulande unzählige Kinder ein solches Schicksal erleben und danach noch Jahrzehnte lang auf eine Wiedergutmachung warten.
Diese Form von Ausbeutung ist heute international geächtet. Unter dem Eindruck der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verabschiedete die UNO-Generalversammlung 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Seit 1950 sorgt die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK durch ihren Gerichtshof in Strassburg dafür, dass die Grundrechte – also das Recht auf Leben, Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, die Achtung des Privat- und Familienlebens oder das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren – auch dann geschützt sind, wenn die einzelstaatlichen Gerichte versagen sollten.
Die Schweiz hat die EMRK 1974 als eines der letzten Länder Westeuropas ratifiziert. Fast alle Menschenrechte galten in der Schweiz als gesichert, aber es gab auch Ausnahmen. Die Schweiz musste also nachbessern, bevor sie der EMRK beitreten konnte. Diese hat zu vielen Dingen beigetragen, die heute so selbstverständlich sind wie das Frauenstimmrecht, das Verbot, Kinder zu verdingen oder der Grundsatz, dass der Ankläger nicht gleichzeitig Richter sein kann. Die EMRK hat sich damit grosse Verdienste um die Weiterentwicklung unseres Rechtswesens erworben von denen wir alle profitieren.
Insgesamt hat aber die Schweiz von «Strassburg» kaum etwas zu befürchten, nur 1,6 Prozent der Anrufungen haben bis heute zu Verurteilungen durch den Gerichtshof geführt. Es sind übrigens auch keine «fremden Richter», die über die Einhaltung der EMRK wachen: Von 1998 bis 2007 war der Basler Völkerrechtler Luzius Wildhaber Präsident und heute wird die Schweiz durch die Zürcher Rechtsprofessorin Helen Keller vertreten. In Strassburg tagt ein von den beteiligten Staaten einvernehmlich eingesetztes Gericht. Von fremden Richtern zu sprechen ist also etwa so absurd, wie wenn die Solothurner die Bundesrichter als «fremde Vögte» brandmarken würden, weil nur wenige Solothurner darunter sind.
Dennoch ist, 40 Jahre nach dem Beitritt der Schweiz zur EMRK die Diskussion um die Mitgliedschaft unseres Landes neu entbrannt. Der Diskurs ist teilweise dermassen absurd, dass man versucht wäre, gar nicht darauf einzutreten, wenn uns die jüngste Vergangenheit nicht wieder in Erinnerung gerufen hätte, was viele von uns nicht für möglich gehalten hätten: Dass nämlich die Volksrechte, auf die wir mit Recht stolz sein dürfen, angesichts der enormen finanziellen Mittel, die heute in Abstimmungskämpfe investiert werden, keine Garantie mehr darstellen für die Einhaltung der Menschenrechte und des Grundsatzes, wonach die Mehrheit die Rechte der Minderheit respektiert.
Es ist daher bestimmt kein Zufall, dass die Angriffe auf die EMRK just von jenen Kreisen ausgehen, welche in letzter Zeit Vorlagen mit entsprechendem propagandistischem Aufwand durchgeboxt haben, die klar nicht EMRK-kompatibel sind.
Seien wir also auf der Hut, aber nicht vor (angeblich) fremden Richtern, sondern vor jenen, die sich als Hüter unserer Demokratie und Eigenständigkeit ausgeben – und vergessen wir nicht, was uns Wilhelm Busch ans Herz legt: «Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber».