Am 15. Mai stimmen wir über den Bundesbeschluss zur «Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache» ab. Damit soll sich die Schweiz als assoziiertes Schengen-Mitglied an einer durch die EU-Institutionen bereits beschlossenen Reform von Frontex beteiligen, die vorsieht, dass bis 2027 eine ständige Reserve von bis zu 10’000 Einsatzkräften für den Schutz der Aussengrenze aufgebaut werden soll. Die Schweiz würde sich mit knapp 50 Millionen Franken mehr und zusätzlichem Personal an dieser Schengen-Weiterentwicklung beteiligen.
Damit wird die gemeinsame europäische Aussengrenze weiter ausgebaut, ohne gleichzeitig legale Fluchtrouten zu schaffen. Das ist angesichts von weltweit rund 90 Millionen Menschen auf der Flucht nicht nur moralisch, sondern auch völkerrechtlich höchst problematisch. Schliesslich gesteht die Genfer Flüchtlingskonvention jeder schutzbedürftigen Person das Recht zu, in jedem Land ein Asylgesuch zu stellen, das individuell behandelt werden muss. Dieses Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar. Aus diesem Grund setzen sich die SP und ihre Schwesterparteien in der EU für eine gerechte Reform des Dublin-Systems, einen besseren Grundrechtsschutz und legale Fluchtrouten ein. Bis dieses Ziel gesamteuropäisch erreicht ist, haben alle Länder – auch die Schengen-Staaten – die Möglichkeit und Verantwortung, eigenständig mehr Menschen Schutz zu gewähren. Der Uno-Migrationspakt sieht explizit vor, dass Grenzschutz und die Aufnahme von Geflüchteten zusammen gehören.
Aus diesem Grund hat sich die SP in der Vernehmlassung und der parlamentarischen Beratung zur aktuellen Frontex-Vorlage für eine Erhöhung der Resettlement-Kontingente des Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) im Bundesbeschluss zur Umsetzung dieser EU-Verordnung eingesetzt. Damit würde besonders verletzliche Personen, die durch das UNHCR in den Erstaufnahmeländern identifiziert wurden, die legale Einreise ermöglicht. Oder, um es in den Worten von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf in der Debatte im Nationalrat zu sagen: «Das Resettlement-Programm ist ein Weg zur legalen Flucht. Es ist ein Fluchtweg ohne Lebensgefahr und in Sicherheit.»
Diese solidarische, EU-kompatible Lösung zur Übernahme stiess beim Bundesrat auf taube Ohren. Jetzt behauptet er im Abstimmungskampf, unter Federführung der beiden EU-feindlichen Bundesratsmitglieder Keller-Sutter und Maurer, und unter willfähriger Mithilfe naiver Liberaler und knallharter Abschotter:innen, ein Nein zur Vorlage würde die Mitgliedschaft der Schweiz bei Schengen/Dublin gefährden.
Argument 1: Bei der Vorlage geht es «um Sicherheitspolitik und nicht um Asylpolitik.» (Mitte-Nationalrat Alois Gmür in der Nationalratsdebatte)
Diese Aussage ist inhaltlich natürlich Blödsinn. Schliesslich besteht die Aufgabe von Frontex explizit darin, die Aussengrenzen gegen ankommende Asylsuchende zu «schützen». Auch juristisch ist das Argument falsch: Die Übernahme der EU-Verordnung bedarf eines eigenen Rechtsaktes (Bundesbeschluss) in der Schweiz. Und das bedeutet, es gibt einen politischen Spielraum unseres Landes, welche Asylpolitik sie betreiben will. In der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats fand ein Antrag, der die Anzahl aufzunehmender Geflüchteter erhöhen wollte, eine Mehrheit. Kommissionssprecherin Andrea Gmür (Die Mitte) begründete dies am 9. Juni 2021 im Ständerat so: «Ihre Kommission steht der EU-Migrationspolitik aber auch kritisch gegenüber. Sie beantragt deshalb, den Bundesratsentwurf, der vor allem sicherheitspolitische Aspekte des Grenzschutzes umfasst, um Ausgleichsmassnahmen im Sinne der humanitären Tradition der Schweiz zu ergänzen. Sie beantragt mit 9 zu 3 Stimmen, in Ergänzung zur Übernahme der EU-Verordnung im Rahmen des Resettlements bis zu 2’800 Flüchtlinge aufzunehmen.» Dieser Vorschlag, der in der Kommission noch eine satte Mehrheit hatte, scheiterte danach im Ständerat knapp mit 22 zu 21 Stimmen.
Warum es nicht gehen soll, die Logik des Vorschlags der Ständeratskommission nach dem 15. Mai wieder aufzunehmen, bleibt das Geheimnis von Bundesrätin Keller-Sutter. Der entsprechende Vorschlag von Daniel Jositsch liegt in Form einer parlamentarischen Initiative jedenfalls auf dem Tisch und könnte schon in der Sommersession, also bis am 17. Juni 2022, verabschiedet werden.
Argument 2: «Lehnt die Schweiz die Reform ab, endet ihre Zusammenarbeit mit den Schengen- und Dublin-Staaten automatisch.» (Der Bundesrat im Abstimmungsbüechli)
Das stimmt grundsätzlich. Sollte der Bundesrat der EU-Kommission mitteilen (notifizieren), dass die Schweiz die entsprechende EU-Verordnung nicht übernehmen will, könnte – falls keine politische Lösung gefunden wird – nach einer Frist von 90 Tagen das Schengener Assozierungsabkommen (SAA) mit der Schweiz aufgelöst werden. Entscheidend ist aber – wie fast immer im Völkerrecht – die entsprechende Mitteilung durch die Regierung. In Art. 7 Abs. 4 des SAA heisst es: «Für den Fall, dass: […] die Schweiz ihren Beschluss notifiziert, den Inhalt eines Rechtsakts oder einer Massnahme nach Absatz 2, auf den beziehungsweise auf die die in diesem Abkommen vorgesehenen Verfahren angewendet wurden, nicht zu akzeptieren, wird dieses Abkommen als beendet angesehen, es sei denn [usw.].»
Das heisst: Nach einem Nein am 15. Mai müssen Bundesrat und Parlament noch einmal über die Bücher und sich überlegen, wie sie die entsprechende EU-Verordnung genau umsetzen. Schliesslich hat das Volk 2005 dem Beitritt der Schweiz zu Schengen zugestimmt und ein Austritt bräuchte zumindest einen Beschluss des Parlaments. Es gibt keinen Automatismus und der Bundesrat kann auch nicht einfach die Nicht-Übernahme der Verordnung notifizieren, ohne das Parlament miteinzubeziehen. Die Professorin für Völkerrecht und öffentliches Recht, Anna Petrig, hielt in einem Rechtsgutachten für die Aussenpolitischen Kommissionen dazu 2021 zweifelsfrei fest: «Seit der Änderung des Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 ParlG im Jahr 2019 greift das Vetorecht der Bundesversammlung nunmehr auch bei der Kündigung eines völkerrechtlichen Vertrages.» Für einen Schengen-Austritt gibt es aber keine Mehrheit, denn alle Fraktionen in der Bundesversammlung – ausser der SVP – stehen zur Schengen-Mitgliedschaft der Schweiz. Bleibt das einzige Argument der Frist: Art. 7 SAA sieht vor, dass die Schweiz von der EU beschlossene Schengen-Weiterentwicklungen innert zwei Jahren umsetzen muss. Seit in Kraft treten des Vertrages 2008 hat die Schweiz – inklusive der aktuellen Vorlage – sieben (!) Änderungen verspätet umgesetzt – in einem Fall 3,5 Jahre zu spät. Passiert ist nichts. Es gibt keinen Grund, warum das in diesem Fall anders sein sollte. Dafür käme der Vorschlag der SP wieder ins Spiel: Ja zum Grenzschutz und ja zur solidarischen Aufnahme von Geflüchteten.
Ein Nein zur Frontex-Vorlage ist ein Nein zur unsolidarischen, minimalistischen und knausrigen Asylpolitik der Schweiz. Ein Nein ermöglicht eine grosszügigere Umsetzung der EU-Frontex-Verordnung, die auch die Aufnahme besonders verletzlicher Geflüchteter ins Auge nimmt – wie es andere europäische Staaten längst tun.