Zu Zehntaussenden sind sie nach Hamburg gekommen, auch per Extrazug aus der Schweiz. Den Globalisierungsgegnern verhilft der G20-Gipfel zu einem medienwirksamen Revival: «Make Capitalism History», «Lieber mili-tanz ich, als G20» – «Welcome to Hell!». Für den Grossanlass werden über 20’000 Polizisten aufgeboten, mehr als der gesamte Polizeibestand unseres Landes. Und trotzdem eskaliert die Gewalt zu Strassenschlachten und Plünderungen. Brennende Autos und Szenen der Gewalt prägen die Bilder, die weder der politischen Bedeutung des Treffens, noch den Anliegen der allermeisten Demonstranten gerecht werden.
Die Elbphilharmonie, das neue Wahrzeichen Hamburgs der Schweizer Architekten Herzog & de Meuron, ist weitläufig als Sicherheitszone abgeriegelt, auch gegen die Boote der Demonstranten. Vom Greenpeace-Schiff springen Einzelne in die Elbe und werden von der Polizei aus dem Wasser gefischt, bevor sie die schwimmende Absperrung erreichen. Ich bin nicht im schwarzen Demonstranten-Outfit gekommen, sondern im dunklen Anzug und beobachte die Szene von der Terrasse der Philharmonie aus. – «Wir da oben, ihr da unten».
Lange vor Ankunft der G20-Potentaten werden die Gäste in den Konzertsaal gebeten, wo Kent Nagano Beethovens Neunte dirigieren wird. Endlich kommen sie und betreten die zentrale Tribüne. Merkel erhält spontanen Applaus. In der vordersten Reihe unterhält sich Trump angeregt mit Macron, dessen Frau Brigitte sich von der Seite aktiv ins Gespräch einbringt. Macron hatte sich schon zuvor bei Trump beliebt gemacht, als er sich kurzerhand für das Gruppenbild mit Dame von seinem hinteren Platz in die vorderste Reihe neben Trump stellte. Er verletzte damit zwar das Protokoll und die Symmetrie des Bildes, Merkel stand so nicht mehr genau in der Mitte, er ersparte aber Trump den Platz rechts aussen. – Putin kommt wie immer zu spät und setzt sich an den Rand der Tribüne, während Erdogan gänzlich darauf verzichtet, sich von Merkel die Europahymne vorspielen zu lassen. Ob der «schöne Götterfunke» zwischen den Ehrengästen springt, sei dahingestellt und «Alle Menschen werden Brüder» bleibt ohnehin eine kühne These. Trotzdem wippt Trump mit Anteilnahme seine blonde Mähne zum Takt des Chors.
Bin ich jetzt hier oben auf der falschen Seite der Geschichte? Hat die G20 in der heutigen Weltunordnung überhaupt eine Berechtigung? Ist nicht die Globalisierung die Ursache sozialer Ungerechtigkeit? Sind nicht hier die Protagonisten die Schuldigen: Trump, Putin, Erdogan und Konsorten?
Für mich ist die G20 ein zweckmässiger Club, schon gar in einer Zeit eskalierender Konflikte. Er ist zwar keine Weltregierung und beileibe keine Wertegemeinschaft. Er erweitert aber die westliche G7 um neue gleichberechtige Akteure der Weltpolitik: China, Indien, Indonesien, die Lateinamerikaner, Südafrika und Saudi-Arabien. Und so vertritt er zwei Drittel der Weltbevölkerung und 80 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung – wenn auch nicht sehr demokratisch und ohne völkerrechtliche Grundlage. Trotzdem hat die G20 in ihrer Schlusserklärung in Hamburg ein Zeichen gesetzt gegen den Protektionismus trotz anfänglicher amerikanischer Einwände und ebenso ein klares Eintreten für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, wenn auch mit expliziter amerikanischer Abstinenz. Ebenso finde ich es nur gut, wenn sich Putin und Trump zum ersten Mal persönlich treffen und über zwei Stunden miteinander sprechen. Viel mehr konnte man nicht erwarten. Ein Minimum an Verständigung ist immer noch besser als offene Konfrontation.
Aber das reicht natürlich nicht für eine linke, wenn auch pragmatische Haltung zur Globalisierung. Dafür gilt es, sich klar gegenüber zwei gefährlichen Positionen abzugrenzen: Zum einen gegenüber dem neoliberalen Freihandel, zum andern gegenüber nationalistischem Protektionismus. Wohlstand verlangt offene Märkte. Wohlstand kann aber nur nachhaltig sein und sozial verteilt werden, wenn auf offenen Märkten gemeinsame Regeln beachtet werden. Diese Regeln betreffen unsere sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Prinzipien. Sie müssen grenzübergreifend in multilateralen oder bilateralen Verträgen festgelegt werden. Hier liegt unsere politische Aufgabe. Konkret müssen wir uns dafür einsetzen, dass Wirtschaftsabkommen – ob multilaterale oder bilaterale, ob Freihandels- oder Investitionsschutzabkommen – einklagbare Verpflichtungen in diesen Prinzipien festlegen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das Klimaabkommen umgesetzt wird. Nur so können wir glaubwürdig offene Märkte gegenüber den Globalisierungskritikern auch in den eigenen Reihen verteidigen.
«Die Kruste der Zivilisation ist dünn» (György Konrád). Es ist bedenklich, wie rasch in einer sonst zivilisierten Stadt wie Hamburg plötzlich rechtsfreie Räume entstehen und scheinbar normale Menschen Geschäfte plündern oder wutwillig Kleinhändlern die Existenzgrundlage zerstören. Noch bedenklicher finde ich, wenn Vertreter der Partei «Die Linke» oder der NGO Attac – die sonst legitime linke Anliegen vertreten – sich weigern, die Ausschreitungen zu verurteilen. Fast 500 Polizisten wurden zum Teil schwer verletzt. Ich weiss nicht, was an dieser Gewalt links sein soll, es sei denn, man versucht, den alten Dario Fo und sein Theaterstück «non si paga, non si paga» aus den 1970er Jahren an den Haaren herbeizuziehen, um Plünderungen als fortschrittlich zu rechtfertigen.