Antrittsrede von Ylfete Fanaj, Präsidentin des Luzerner Kantonsrates, 23. Juni 2020.
Ich danke Ihnen für Ihre Stimme. Mit Ihrer Stimme haben Sie aus Ihrer Mitte eine Präsidentin gewählt, die nicht in der Schweiz auf die Welt gekommen ist, die eine andere Muttersprache hat als Sie. Vermutlichhaben Sie mich gewählt, ohne an meine Herkunft zu denken. Und das berührt mich sehr. Es macht mich stolz, in diesem Umfeld zu politisieren. Ich bin glücklich, allen Bewohnerinnen und Bewohnern unseres Kantons dienen zu dürfen.
Nun stehe ich vor Ihnen mit einem Gefühl der tiefen Dankbarkeit. Dankbarkeit für alle jene Menschen, die mich auf meinem Weg unterstützt haben – mein Mann und meine Familie, Freundinnen und Freunde, Lehrerinnen und Lehrer, Parteikolleginnen und -kollegen. Ich danke allen, die mich durch ihre Stimme in den vergangenen Jahren bis hierhin gebracht haben. Und ich danke Ihnen allen, die mir Ihre Stimme hier und heute gegeben haben. Vielen herzlichen Dank für das Vertrauen.
Die Schweiz ist ein kleines Land. Aber die Schweiz macht ganz grosse Träume möglich. Still, unaufgeregt, bescheiden. Das ist der Wert helvetischer Tugenden. Heute haben Sie mit Ihrer Stimme etwas möglich gemacht, was für meine Eltern unvorstellbar war: Mein Vater ist als Saisonnier ein paar Monate vor meiner Geburt zum ersten Mal in die Schweiz eingereist. Das war genau vor 38 Jahren. Und heute, ein paar Monate vor seiner Pensionierung, wird seine Tochter höchste Luzernerin! Die Schweiz macht so vieles möglich.
Mit Ihrer Stimme haben Sie ermöglicht, dass 50 Jahre nach der Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts eine Frau gewählt wird, die sich aktiv darum bemühen musste, eine politisch gleichgestellte Bürgerin zu werden. Gestern und heute haben Sie auch einem Richter und zwei Staatsanwältinnen die Stimme gegeben, deren Eltern so wie meine eingewandert sind. Sie haben mit Ihrer Stimme ermöglicht, dass es für die rund 30 Prozent Luzernerinnen und Luzerner mit einem Migrationshintergrund selbstverständlicher wird, auch in die höchsten Ämter gewählt zu werden. Denn in den staatlichen Institutionen soll sich die ganze Vielfalt der Bevölkerung widerspiegeln. Auch dafür danke ich Ihnen von Herzen.
Ich will meine Stimme dafür nutzen, all jene Stimmen hörbar zu machen, für die in unserem System oft das Gehör fehlt. Ich werde ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte, für ihre Anliegen und Forderungen haben. Es sind Menschen, die unter uns leben, aber für viele nicht so sichtbar sind. Menschen, die sehr vieles für unsere Gesellschaft beitragen. Ihren Gesichtern und ihren Geschichten möchte ich eine Plattform geben. Wie zum Beispiel die meiner Eltern, wie auch die Eltern so vieler Secondos und Secondas, die schon über ein halbes Jahrhundert hier sind, still und gschaffig im Hintergrund. Sie haben dieses Land mitaufgebaut, zu unserem Wohlstand beigetragen. Ich stehe nur hier, weil meine Eltern meinen Geschwistern und mir das ermöglicht haben, was ihnen als Kinder verwehrt war: Bildungschancen und Zukunftsperspektiven. Meine Eltern mussten beide die Primarschule abbrechen. Aber sie haben uns gelehrt, welchen Wert Bildung hat.
Auch wenn die Schweiz ein sehr gutes Schulsystem hat, sie schöpft ihr Potential nicht vollständig aus. Leider ist es oft immer noch so – in der Schweiz, auch in Luzern – dass der Familienname, der Beruf der Eltern, die soziale Herkunft und die finanziellen Mitteldarüber entscheiden, ob jemand eine Lehrstelle findet oder ins Gymnasium geht. Wie ich auch selber erfahren musste. Ich will, dass nicht nur Ausnahmetalente es nach oben schaffen. Um dann oft noch als Beweis angeführt werden, dass ja alles in Ordnung sei – man müsse sich nur ein wenig anstrengen. Was ich mir wünsche, ist, dass ganz viele die grossen Träume leben können. Und darum setze ich mich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche die beste Bildung geniessen dürfen, ausgezeichnete Zukunftsperspektivenhaben und in einem lebenswerten Kanton aufwachsen.
Auch die Tatsache, dass eine Frau hier steht, war einmal ein grosser Traum. Ich stehe hier, weil viele vor uns für unsere Rechte eingestanden sind; weil viele Menschen für eine bessere Zukunft gekämpft haben. Unseren Vorkämpferinnen schulden wir Dank und Respekt. Sie haben uns den Weg geebnet, haben unseren Stimmen unerschrocken Kraft und Gehör verschafft. Und auch wir stehen heute in der Pflicht, für echte Gleichberechtigung zu sorgen. Und darum werden Sie anschliessend ein dazu passendes Lied hören. „Respect“–geschrieben von Otis Redding, berühmt geworden dank Aretha Franklin. Ihr Einsatz, ihre Kraft, ihre Stimme sind mir eine Inspiration. Dieses Lied bedeutet mir sehr viel, denn für mich spricht daraus die Forderung nach Respekt für alle Menschen.
Gerade heute, wo in vielen Ländern verstärkt diskutiert wird, wie eine Gesellschaft ohne Diskriminierung realisiert werden kann, wie wir echte Gleichberechtigung für alle Menschen erreichen können. Seite an Seite mit Ihnen allen und der Luzerner Bevölkerung möchte ich mich dafür einsetzen. Ich lade Sie herzlich dazu ein. Hiermit erkläre ich die Annahme der Wahl.