Gleichstellung heisst Gerechtigkeit und Demokratie

Rede von Marina Carobbio Guscetti am Nominierungskongress vom 16. Juni 2019 in Rivera TI

Sehr geehrte Frau Bundesrätin, liebe Simonetta, lieber Fraktionspräsident Roger, liebe Genossinnen und Genossen, sehr geehrte Gäste

Als ich am Freitag Morgen, kurz vor 11 Uhr, die Sitzung des Nationalrates unterbrochen habe und auf den Bundesplatz gekommen bin, kamen mir Tränen  der Rührung angesichts so vieler Frauen, die uns erwarteten. Der Platz war violett eingefärbt, aber gleichzeitig auch vielfarbig. Genau so vielfarbig und vielfältig wie die Diversität, welche uns stark macht und welche niemals zur Ausgrenzung führen darf.

Ich habe es im Nationalrat gesagt, ich habe es auf dem Bundesplatz wiederholt und ich betone heute noch einmal: Gleichstellung ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Demokratie.

Am Freitag, den 14. Juni, habe ich an zwei Frauen gedacht, die mir sehr nahe stehen. Frauen, deren Geschichte ähnlich sein dürfte wie diejenige vieler anderer Frauen, und die auch ähnlich sein dürfte wie diejenige vieler von euch, die ihr heute hier seid. Ich habe an meine Mutter Graziella gedacht, die wie zahlreiche andere Frauen ihrer Generation ein weiteres Mal an einer feministischen Demonstration teilgenommen hat. Sie war die erste, welche mich gelehrt hat, was es heisst, Frau und Feministin zu sein. Und ich habe an meine 15-jährige Tochter Laura gedacht. Sie soll eine Zukunft haben, wo es nicht mehr nötig sein wird, auf die Strasse zu gehen für Lohngleichheit, gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz oder weil sie nicht aufgrund ihrer Kleidung beurteilt werden will.

Diese starken Emotionen, welche ich in Bern erlebt habe, habe ich auch Abends in Bellinzona erlebt. Und ich habe mir gesagt: jetzt ist es tatsächlich möglich. Etwas wird sich ändern. Hunderte von Tausenden von Frauen, welche auf die Strasse gehen, und am Arbeitsplatz, trotz Druck und Schwierigkeiten, gestreikt haben, können nicht einfach ignoriert werden. Jetzt ist es an der Politik, vorwärts zu machen. Wer ein politisches Amt hat, muss jetzt entschieden und mit Überzeugung die Forderung nach einer echten Lohngleichheit vorantragen, sich für einen Elternurlaub auch in der Schweiz einsetzen und für Anerkennung der Care Arbeit, vor allem seitens der Sozialversicherungen, einstehen.

Diese übergreifende Bewegung, welche Respekt und Gleichberechtigung fordert, und gegen Geschlechterdiskriminierung kämpft, hat eine grosse Sprengkraft, vergleichbar mit der Sprengkraft der Klimajugend.

In beiden Bewegungen ist ein starker Wille vorhanden, die Verhältnisse zu ändern und eine bessere, gerechtere, inklusivere und solidarischere Gesellschaft einzufordern. Eine Gesellschaft, in der Reichtum umverteilt wird und nicht nur einigen wenigen zur Verfügung steht. Eine Gesellschaft, in der Wachstum gebremst und die Umwelt geschützt wird. Eine Gesellschaft, in der die Jugend eine Zukunft hat. Eine Gesellschaft, in der die Rechte der Menschen, die von weit her kommen, nicht mit Füssen getreten werden. Eine Gesellschaft, in der Menschen, die in Schwierigkeiten sind, nicht ausgegrenzt werden.

Viele Menschen beteiligen sich an Demonstrationen, Anlässen und Begegnungen, viele äussern sich und verlangen nach einer gerechteren Gesellschaft. Sie wollen, dass die schwächeren Mitglieder besser verteidigt und Vielfalt als Wert anerkannt wird. Denn die Vielfalt der Geschlechter, der Herkunft und der Kultur ist unser Reichtum. Die Fähigkeit, die verschiedenen Komponenten unserer Gesellschaft zu integrieren, ist die Stärke unseres Kantons.

In diesen Monaten als Präsidentin des Nationalrates bin ich vielen Menschen begegnet. Ich habe einige Länder des Südens besucht, und weitere Besuche sind geplant. Ich habe gesehen, wie nötig es ist, vermehrt in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Diese Hilfe darf nicht reduziert werden. Ich habe mit Frauen gesprochen, die sexuelle Gewalt erleben. Ich bin Frauen und Kindern in einem Gesundheitszentrum in Mozambique begegnet, wo es auf Tausende von Kranken einen einzigen Arzt gibt.

Immer mehr bin ich davon überzeugt, dass die Klimafrage nicht von der sozialen Frage getrennt werden kann. Weltweit gesehen, sind zehn Prozent der reichsten Personen für die Hälfte der CO2 Emissionen verantwortlich. Ein Prozent der Superreichen verursacht gleich viel Emissionen, wie die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung. Aus diesem Grund ist Gleichstellung eine wichtiger Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise.

Heute ist ein spezieller Tag: Dank eurer Annahme der SP-Liste für den Nationalrat und meiner Kandidatur für den Ständerat, dank der Listenverbindungen mit den anderen Linksparteien, schaffen wir die besten Voraussetzungen für einen zweiten Sitz des progressiven, linken und feministischen Lagers in Bern. Erstmals in der Geschichte des Kantons Tessin könnten wir eine Frau als Vertreterin im Ständerat haben.

Ein Traum? Vielleicht. Aber wie der chilenische Schriftsteller Luis Sepulveda schreibt: wir müssen an unsere Träume glauben, und sie in Realität umformen.

Die jetzigen Kräfteverhältnisse haben spürbare Folgen für die Menschen, für die Familien, für die Arbeiterinnen, für die Arbeiter und für unsere Umwelt. Die Ungleichheit und das Prekariat nehmen zu. Schauen wir, zum Beispiel, die Gesundheitskosten und Krankenkassenprämien an. Das Parlament, von Lobbys und Partikulärinteressen gesteuert, geht das Problem der ständig steigenden Krankenkassenprämien, welche das Familienbudget erodieren, nicht an. Das hat die SP Schweiz dazu gebracht, eine Initiative zu lancieren, welche verlangt, dass die Krankenkassenprämien maximal 10 Prozent des verfügbaren Einkommens einer Familie betragen dürfen. Das Parlament muss auch dringend Lösungen finden für Personen, welche mit über 50 ihre Arbeit verlieren, für Mütter, welchen nach der Geburt ihres Kindes oder noch während der Schwangerschaft gekündigt wird, für die jungen, gut ausgebildeten Menschen, welche als Praktikantinnen und Praktikanten arbeiten, anstatt in fester Anstellung zu fairem Lohn und anständigen Arbeitsbedingungen.

Wir müssen unserem Kanton eine Chance geben, nicht indem wir uns vom Rest der Schweiz und der Welt abschotten, sondern indem wir Brücken bauen. Brücken zwischen Sprachen und Kulturen bauen, das ist eines der Zeichen, welches ich in meinem Präsidialjahr setzen wollte. Aus diesem Grunde leite ich die Sessionen in italienischer Sprache. Es ist für mich wichtig, dass die sprachlichen und kulturellen Minderheiten respektiert werden, denn die Identität eines Landes hängt auch von seiner Fähigkeit ab, die verschiedenen Komponenten seiner Bevölkerung anzuerkennen, zu fördern und zu unterstützen. Hindernisse, wie zum Beispiel sprachliche Barrieren, welche die volle Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger am demokratischen Leben verhindern, müssen beseitigt werden.

Die Listenverbindung mit den anderen Kräften des rot-grünen Lagers ist sicherlich ein wichtiger Schritt für die nationalen Wahlen, aber auch für eine verstärkte Zusammenarbeit auf kantonaler Ebene. Ich danke allen Kandidierenden, die sich zur Verfügung stellen: Andrea, Bruno, Chiara, Christina, Davide, Igor und Martina auf der SP Liste, sowie allen Kandidierenden auf der Liste «Grünen und linke Alleanz».

Meine Kandidatur für den Ständerat ist ein kollektives Projekt. Ich bin stolz, daran teilzunehmen, wenn ihr mir euer Vertrauen aussprechen wollt. Wir können unsere Ziele diesen Herbst erreichen, wenn wir alle mit Leidenschaft und Entschiedenheit unsere Ideale und Werte vorantragen: Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Schutz der Umwelt und eine bessere Lebensqualität.

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