Am letzten Samstag, dem 17. März, rief die Behindertenorganisation Agile.ch zu einer Kundgebung für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Eigentlich eine coole Sache. Die Organisierenden der Demo in Bern haben diesen Samstag im März nicht zufällig ausgewählt. Am 14. März 1998 fand an der gleichen Stelle eine Kundgebung mit der gleichen Forderung statt. Damals waren es rund 8’000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Also folgte ich mit rund 12 Mitstreiterinnen und Mitstreitern diesem Ruf und wir fuhren mit der SBB nach Bern. Wir alle hatten grosse Erwartungen, als wir vom Berner Hauptbahnhof zum Bundesplatz spazierten. Mit der Grossdemonstration von 1998 mit rund 8’000 Demonstrierenden im Hinterkopf malte ich mir schon aus, wie voll der Bundesplatz diesmal sein würde. In meiner Naivität rechnete ich mit ein paar Tausend Leuten, da wir in den 20 Jahren leider keine fundamentalen Fortschritte für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung gemacht haben, obwohl wir das Behindertengleichstellungsgesetz und die UNO-Behindertenrechtskonvention haben.
Was wir auf dem Bundesplatz vorgefunden haben, war alles andere als eine Grossdemonstration. Laut den Organisierenden waren es rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Eine mickrige Zahl. Mickrig, weil man an der Kundgebung immer wieder auf die vergangene Grossdemonstration mit 8’000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern verwiesen hat und man auch immer wieder erklärte, dass (laut dem Bundesamt für Statistik) 1.8 Millionen Menschen in der Schweiz mit einer Behinderung leben. Als nationale Kundgebung mit landesweiter Ausstrahlung geplant, war die Übung meines Erachtens ein Desaster.
Obwohl: Die Kundgebung zeigte perfekt den Zustand des Behindertenbereichs. Der harte Kern der Behindertenbewegung steht alleine im Regen vor den Toren der Macht und übt sich in Nostalgie.
Liebe Betroffene, wir können noch weitere 20 Jahre die Schuld der Politik und vor allem den Bürgerlichen geben, aber bevor wir uns alle nicht am Riemen reissen und zusammen einen fundamentalen Strukturwandel innerhalb unserer Bewegung vom Zaun brechen, wird es keine nachhaltigen Verbesserungen geben. Davon bin ich überzeugt.
Mit Strukturwandel meine ich einerseits, dass wir bei unseren Organisationen wegkommen von der Fremdbestimmung und der Objektfinanzierung. Es darf nicht sein, dass unsere Organisationen immer noch mehrheitlich von Nichtbehinderten geführt werden und dass unsere Organisationen sowohl Dienstleistungsanbieter als auch Interessensvertreter sind. Der Interessenskonflikt ist hier vorprogrammiert.
Andererseits müssen wir Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter uns vermehrt parteipolitisch engagieren. Wir müssen zahlreicher den Weg in die Politik, in die Parlamente und in die Exekutiven einschlagen. Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass unsere Themen einzig im Bereich der Sozialversicherungen diskutiert werden. Behinderung ist ein Gesellschaftsthema und deshalb auch ein Querschnittsthema. Das hat unser aktueller Bundespräsident Alain Berset sehr gut erkannt.
Zudem müssen unsere Genossinnen und Genossen verstehen und erkennen, dass nicht unsere Behinderung uns schwach erscheinen lässt, sondern die etablierten Gesellschafts- und Sozialsysteme. Die Rahmenbedingungen der heutigen Systeme sind so ausgelegt, dass am laufenden Band arme und hilflose Behinderte produziert werden. Gerade letzte Woche hat sich sehr gut gezeigt, was das heisst. Die vom Nationalrat beschlossenen Kürzungen bei den Ergänzungsleistungen, sowie die Observationen von Sozialversicherten mit GPS-Trackern, Kameras und Tonaufnahmegeräten, die künftig zulässig sein sollen, schaffen Unsicherheit und drängen die Betroffenen weiter an den Rand der Gesellschaft. Unser Widerstand gegen die Observationen ist demnach auch eine Demonstration gegen diese schwachmachenden Rahmenbedingungen.
Wenn wir sowohl auf der zivilgesellschaftlichen als auch auf der parteipolitischen Seite einen fundamentalen Strukturwandel erwirken können, dann kann unser Traum von der Gleichstellung wahr werden.