Heidi Witzig: «Es ist egal, wenn die Gegner hässig sind»

Die renommierte Historikerin Heidi Witzig war Gründungsmitglied der Klimasenior:innen. Das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte hält sie für «epochal» und vergleicht es mit der Einführung des Frauenstimmrechts.

Im Nachgang zum Entscheid aus Strassburg bezeichneten viele das Urteil als «historisch». Mit diesem Wort gehen Historiker:innen gewöhnlich vorsichtig um. Wie schätzt du den Entscheid ein?

Der Entscheid ist wirklich historisch. Er erweitert den Katalog der Menschenrechte um die Frage der Klimagesundheit. Auch unter den neuen Klimabedingungen haben die Menschen ein Recht auf Gesundheit. Das Urteil bedeutet, dass der Staat die Menschen vor den Folgen des Klimawandels schützen muss und es hält fest, dass die Schweiz für den Klimaschutz zu wenig tut. Der Entscheid gilt für alle 46 Länder, die die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben – das ist epochal.

Warum war die Klage schlussendlich erfolgreich?

Es ist medizinisch erwiesen, dass Frauen ab 65 unter der Klimaerwärmung leiden. Dies legitimierte die Klage. Doch das Bundesgericht und der Bundesrat weigerten sich, unsere Klage materiell zu beurteilen. Es war unser Glück, dass sie uns nicht ernst genommen haben. Wir haben in Strasburg Recht bekommen, und nun muss der Bundesrat handeln und die Menschen vor den Folgen des Klimawandels schützen. Doch das Urteil ist raffiniert. Die Richter:innen haben nicht gesagt, welche Massnahmen der Bundesrat ergreifen muss, sondern dies offengelassen.

Warum haben die Klimasenior:innen nicht einfach Vorstösse eingereicht?

Es ist offensichtlich, dass man mit Vorstössen kaum Erfolg hat. Die Klage war politisch mit Abstand das Gescheiteste, was wir machen konnten. Da ist es egal, wenn die Gegner nun hässig sind.

Die Ausweitung der Menschenrechte muss auch politisch fundiert sein. Findest du es korrekt, dass die Politik an die Gerichte ausgelagert wurde?

Die Klage bot eine gute Gelegenheit zum Ausbau der Menschenrechte. Menschenrechte sind Menschenrechte. Und sie entwickeln sich weiter. Seit der Unterzeichnung der Erklärung der Menschenrechte gelten sie auch für die Schweiz. Und wenn die geltenden Gesetze mit den Menschenrechten nicht konform sind, müssen wir halt die Gesetze anpassen. Die Menschenrechtskonvention hat uns übrigens schon früher zu einem grossen Schritt verholfen.

Worauf spielst du an?

Als die Schweiz 1969 der Europäischen Erklärung der Menschenrechte beitreten, aber einen Vorbehalt beim Frauenstimmrecht anbringen wollte, gab es einen internationalen Aufschrei. Die Schweiz machte sich komplett lächerlich, das Ansinnen stiess in ganz Europa auf Unverständnis. In der Folge stimmten dann die Männer über das Frauenstimmrecht ab, das 1971 eingeführt wurde. Der Druck aus dem Ausland war dafür entscheidend. Ausserdem durften die Frauen in etlichen Kantonen, vor allem in der Westschweiz, seit längerem wählen und sassen auch in der Regierung. Die Westschweiz musste sich langsam mit uns genieren…

Habt ihr auf eurem langen Weg durch die Instanzen nie den Mut verloren?

Nein! Viele Klimasenior:innen sind alte Häsinnen im politischen Kampf. Wir hatten eine sehr gute Juristin, und Greenpeace hatte sich ebenfalls auf einen langen Kampf eingestellt. Viele Klimasenior:innen haben die Klage zu ihrem politischen Schwerpunkt gemacht. Wenn man einen so langen Atem braucht, muss man für das Ziel brennen. Es war uns immer klar: Das ist ein Marathon.

Du hast dich immer für Frauenrechte eingesetzt. Wie kommt es, dass du dir das Thema Klima auf die Fahnen geschrieben hast?

Ich setzte mich Jahrzehntelang nicht nur für Frauenrechte ein, sondern auch für die Umwelt. Das gehörte dazu. Ich war an jeder Demo gegen Kaiseraugst. Alle Klimasenior:innen sind gestandene Umweltschützer:innen. Mit der Klima-Klage führten wir dieses Engagement einfach weiter – es konnten ja nur die Seniorinnen aus medizinischen Gründen klagen. Das war ein Hebel, ein Aufhänger. Bei den Klimasenior:innen dürfen darum auch nur Frauen über 64 Jahren Mitglied werden.

Heute kleben sich manche auf die Strasse oder blockieren Fabriken. Hättest du dir auch eine aktivistischere Form von Protest vorstellen können?

Früher hätte ich mich vielleicht auf die Strasse geklebt, aber in meinem Alter sicher nicht mehr – ich bin schliesslich 80 Jahre alt. Das merke ich manchmal.

Du hast dich immer politisch betätigt oder warst in der Gesellschaft aktiv. Magst du noch mitkämpfen?

Ich bin nicht müde, aber ich höre manchmal früher auf als auch schon. Aber bei der Grossmütter-Revolution sind wir sehr aktiv und nehmen selbstverständlich auch an Demonstrationen teil. Den Einsatz für die Umwelt halte ich nicht bloss als Seniorin für meine Pflicht.

Zur Person

Heidi Witzig, geboren 1944, ist Historikerin, Politikerin und bekannte Frauenrechtlerin. Sie publizierte 1986 zusammen mit Elisabeth Joris eine Quellensammlung zur Frauengeschichte in der Schweiz und legte damit den Grundstein für die Erforschung der Geschichte von Frauen. Sie ist Mitglied der SP, lebt in Winterthur und half mit, die Klimasenior:innen und die Grossmütter-Revolution zu gründen. Dort setzt sie sich besonders für die Gleichberechtigung im Alter sowie ein feministisches Bild vom Alter ein.

Beat Jans: Mit Witz gegen die Empörung

Das Urteil des Europäischen Menschengerichtshofs (EGMR) schlägt immer noch hohe Wellen. Mit Witz nahm Bundesrat Beat Jans in seiner 1.-Mai-Rede auf dem Bundesplatz in Bern die Gegner des Entscheids auf die Schippe. Im Zitat:

«Warum diese Aufregung um das EGMR-Urteil?
Ich will den Kritikern dieses Urteils nicht die Rösti versalzen, aber: Das war kein Entscheid gegen die Schweizer Bevölkerung, sondern ein Entscheid für die Schweizer Bevölkerung.
Warum diese Aufregung?
Als würdest du dem Brandmelder vorwerfen, dass er dir mitteilt, dass es brennt. Die gute Nachricht für alle Empörten: Ob wir löschen wollen, können wir immer noch selber entscheiden. Ganz souverän.»

Wir warten gespannt auf erste Vorschläge des Bundesrats zur Umsetzung des Urteils.

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