Warum dauerte es so lange, bis die Frauen auch hierzulande abstimmen und wählen durften?
Fabienne Amlinger: Offensichtlich waren die Männer lange Zeit nicht bereit, die Macht zu teilen. Die wenig frauenfreundliche Haltung des Parlaments und des Bundesrats trugen dazu bei, dass das Anliegen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts immer wieder in der Schublade verschwand. Auch der Kantönligeist wirkte bremsend. Zudem fehlte aus Sicht der offiziellen Schweiz lange die «politische Notwendigkeit». Anders als etwa Deutschland musste die Schweiz nach dem ersten Weltkrieg den Willen zur Demokratie nicht unterstreichen und deshalb das Frauenstimmrecht einführen. Der Abstimmung von 1971 gingen aussenpolitische Überlegungen voraus. Die Schweiz wollte die Europäischen Menschenrechtskonvention unterzeichnen, was ohne Stimm- und Wahlrecht für die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen war.
War die Frauenstimmrechtsbewegung einfach zu brav?
Fabienne Amlinger: Die Strategie der Stimmrechtsbewegung erwies sich als problematisch. Sie konzentrierte sich einseitig auf Aufklärungs- und Erziehungsarbeit. Mit nicht-konfrontativen Aktionsformen wie Vorträgen, Presseartikeln oder der Stimmrechtspetition von 1929 konnten die Frauen dem Anliegen keinen Nachdruck verschaffen. Und indem die Stimmrechtskämpferinnen die Argumente der starken Gegnerschaft zu widerlegen versuchten, investierten sie viel Energie in ein aussichtsloses Unterfangen. Zwischen den Stimmrechtskämpferinnen verliefen zudem erhebliche parteipolitische, sprachliche und konfessionelle Grenzen, was die Bildung von Allianzen behinderte und den Kampf für die politischen Rechte schwächte.
Brachte also erst die Frauenbefreiungsbewegung Zug in den Kamin?
Fabienne Amlinger: In der Stimmrechtsbewegung selbst vollzog sich ein bedeutender Wandel. Mit ihrem konfrontativen Auftreten hoben sich die jungen Frauen der neuen Frauenbewegung deutlich von den gemässigten Stimmrechtlerinnen ab. Im Vergleich mit den weit über die politische Gleichberechtigung hinausgehenden Forderungen der neuen Frauenbewegung, etwa der Kritik an den Geschlechterrollen oder der Forderung nach selbstbestimmter Sexualität, erschien das Frauenstimmrecht als akzeptables Zugeständnis. Erst die in den 1970er-Jahren aufkommende neue Frauenbewegung setzte mit ihrer Kritik bei den Geschlechterrollen an und erhob damit erheblich weitergehende Forderungen als einzig das politische Mitspracherecht.
Womit hatten die ersten Nationalrätinnen am meisten zu kämpfen?
Fabienne Amlinger: Beide der heute noch lebenden ehemaligen Nationalrätinnen, Gabrielle Nanchen und Hanna Sahlfeld, sagen, sie seien im Rat gut aufgenommen worden. Angesichts der geringen Zahl an Nationalrätinnen musste auch keiner der Männer einen echten Machtverlust fürchten. Manche Männer fanden es ‘schön’, dass jetzt Frauen im Rat waren. Zugleich standen die wenigen Frauen als die «anderen» im Scheinwerferlicht und damit auch unter besonderer Beobachtung.
Wie ist «schön» zu verstehen?
Fabienne Amlinger: Die Frauen wurden in der öffentlichen Wahrnehmung oft aufs Äussere reduziert. In der Wochenschau zur Nationalratswahl ist beispielsweise die Rede von hübschen, charmanten, lächelnden, frischen Frauen. Dabei wurden ihre Kompetenzen, um die es in der Politik ja geht, gar nicht erwähnt.
Das Parlament war von Männern für Männer gemacht.
Fabienne Amlinger: Von besonderer Bedeutung war für die ersten Nationalrätinnen der Anpassungsdruck. Es waren ganz wenige Frauen in einem komplett männlich dominierten Feld, das 1848 von Männern für Männer geschaffen worden war. Alle Regeln und Codes waren männlich konnotiert. Und Frauen brachen schon allein durch die Tatsache, dass sie Frauen waren, mit der bisherigen Regel, wonach Politik eben männlich ist. Bezüglich Anpassungsdruck erzählt die ehemalige SP-Nationalrätin Hanna Sahlfeld etwa, dass sie sich als Frau in einer Männerwelt spezifische Regeln auferlegen musste: Keinen Tropfen Alkohol trinken oder nie alleine mit einem Mann gesehen werden, weil sonst ein riesiger Skandal losgetreten worden wäre.
Welches Gewicht hatten die Kritikerinnen des Frauenstimmrechts?
Fabienne Amlinger: Es gab organisierte Frauen, die sich auf höchster Ebene gegen das Frauenstimmrecht einsetzten. Eines ihrer Argumente war, dass Frauen für die Politik nicht gemacht seien. Für die Gegner war es ein gefundenes Fressen. Denn damit konnten sie das Argument stützen, wonach Frauen das Frauenstimmrecht selbst gar nicht wollen.
Wie viele Frauen kämpften eigentlich fürs Frauenstimmrecht?
Fabienne Amlinger: Das Wort Frauenbewegung suggeriert Tausende von Aktivistinnen. Tatsächlich waren es in den besten Jahren bloss 3000 bis 5000 aktive Frauenrechtlerinnen.
Was hat sich mit dem Frauenstimm- und wahlrecht tatsächlich verändert?
Fabienne Amlinger: Zunächst einmal wurde die Schweiz endlich so etwas wie eine Demokratie! Die politische Agenda veränderte sich. Viele der Nationalrätinnen setzten sich für Gleichstellungsthemen ein, auch parteiübergreifend. Themen wie Eherecht, Schwangerschaftsabbruch oder Mutterschaftsurlaub wurden massgeblich von Frauen angestossen. Die Vorstellung dessen, was als politisches Thema wahrgenommen wurde, erweiterte sich. So wurde, angetrieben vor allem durch die neue Frauenbewegung, das Thema Schwangerschaftsabbruch vom Privatproblem zum politischen Thema.
Was änderte sich in den Abstimmungsergebnissen?
Fabienne Amlinger: Vor der Einführung des Frauenstimmrechts behaupteten die Konservativen, die Frauen würden links wählen. Linke Gegner des Frauenstimmrechts, die es auch gab, fürchteten, die Frauen würden katholisch wählen. Das bewahrheitete sich nicht. Es gab keine grossen politischen Verschiebungen. Die Statistiken zeigen, dass Frauen in der Tendenz eher links und eher grün wählen. Seit 1971 gaben Frauen bei etwas mehr als zehn Vorlagen den Ausschlag, beispielsweise bei der Gripen-Beschaffung, der Rassismus-Strafnorm oder der Kulturförderung. Mit Blick auf die Parlamente stellt man fest, dass Frauen tendenziell eher Gleichstellungsanliegen unterstützen. Doch auch hier zeigt sich: eine SVP-Frau hat meistens nicht viel gemein mit einer SP-Frau.
Ende gut, alles gut?
Fabienne Amlinger: Rechtlich und somit formal ist die Gleichberechtigung zum allergrössten Teil erreicht. In der Realität genügt ein Blick in die Statistik, um zu erkennen, dass beispielsweise politische Ämter auch heute noch häufiger von Männern besetzt werden – je prestigeträchtiger und wichtiger das Amt, desto höher der Männeranteil. Gleichzeitig sind Frauen deutlich mehr von Armut oder sexualisierter Gewalt betroffen. Doch jede Zeit birgt ihre eigenen Herausforderungen. Mit den sozialen Medien hat das Thema eine neue Dynamik erhalten, denken wir etwa an Sexismus im Netz.
Bildnachweis: Siegfried Kuhn © StAAG/RBA1-1-3677_1
Bildlegende. Die ersten 12 Nationalrätinnen stehend von links Elisabeth Blunschy-Steiner, Hedi Lang, Hanny Thalmann, Helen Meyer, Lilian Uchtenhagen, Josi Meier, Hanna Sahlfeld, sitzend Tilo Frey, Gabrielle Nanchen, Liselotte Spreng, Martha Ribi und Nelly Wicky, 29.6.1972