Im «Paradeplatz-Express»

Referat von Christian Levrat, Ständerat FR, Präsident der SP Schweiz

Referat von Christian Levrat, Ständerat FR, Präsident der SP Schweiz
Dienstagabend, es war so gegen 18 Uhr, fuhr ich mit dem Zug von Zürich nach Zug. Dieser Zug trägt den Übernamen «Paradeplatz-Express», weil er die Banker von ihrem Arbeitsort direkt nach Hause in ihre Steuerparadiese bringt. Und wie könnte es anders sein: Drei Banker setzen sich zu mir ins Abteil, alle drei mit saurer Miene.

Sie erzählen von ihren letzten Geschäftsreisen, Beirut, Singapur, Dubai, auch New York. Interessiert beobachtete ich die drei Männer, wie sie gut angezogen, elegant und selbstsicher dasitzen. Der Tag schien gar nicht nach ihrem Geschmack verlaufen zu sein. Ich überlege mir, was der Grund dafür sein könnte: Börsenverluste? Ärger mit dem Jüngsten in der Schule? Schlecht gespielt beim Squash? Kein Foie Gras mehr in der First bei Lufthansa?

Meine Gedanken schweifen ab. Und wie alle Zugpassagiere dieser Welt, schlage ich mir die Zeit tot, indem ich versuche mir das Leben meiner Sitznachbarn vorzustellen. Ich träume träge vor mich hin und werde vom Wiegen des Zuges langsam eingeschläfert, als ich plötzlich hochschrecke. Acht Wörter lassen mich schlagartig wieder erwachen: «Wegen diesen Clowns haben wir 50 Millionen verloren.» Ich spitze die Ohren. Die beiden anderen nicken ernst.

Schüchtern frage ich: «Welche Clowns ?» Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Na hören Sie mal, das haben Sie doch gehört. Berlusconi, Beppe Grillo, die Italiener, eine politische Sackgasse. Die Börsen sind zusammen gebrochen.»

Die drei Banker scheinen ernsthaft sprachlos über die Wahl des italienischen Volks. Sie verstehen nicht, wie ein Volk – oder zumindest ein Teil davon – einem Clown vertrauen kann, der mehr oder weniger offen fremdenfeindlich ist. Einem Milliardär, der Probleme mit der Justiz hat. Einem abgesetzten Regierungsmitglied, einem Medienmagnaten, der sich als Mann des Volkes ausgibt. Einem Mann, der Europa für all das verantwortlich macht, was in seinem Land nicht funktioniert. Einem Mann, der nochmals über die EU abstimmen lassen will und der aus Brüssel und dem Euro Feinde macht, die niedergestreckt werden müssen. Einem Mann, der die Politik und die traditionellen Parteien in den Dreck zieht und die Zukunft nur in der Vergangenheit sieht.

Meine Banker sind sichtlich frustriert von der Wahl des italienischen Volks. «Sie sollten merken, dass sie gegen ihre eigenen Interessen stimmen», ärgert sich der Aufgeregteste unter ihnen. Wir kommen im Bahnhof Zug an. Der Mann, welcher mir am nächsten sitzt, flüstert mir zu: «Wissen Sie, ich habe Sie erkannt. Viel Glück!» Ich habe gerade noch Zeit, um ihm zu antworten: «Danke. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?» Ich nehme meinen Mut zusammen und atme tief durch, als wir das Perron entlang laufen, um den Bahnhof zu verlassen: «Sind Sie politisch engagiert?» «Ein wenig», antwortet er, «ich bin Mitglied der SVP.»

Völlig überrascht bleibe ich stehen. Mein Banker nutzt dies, um diskret in der Menge zu verschwinden. Schade, ich hätte ihm gerne sein Bild der italienischen Rechten vor Augen gehalten und ihn gefragt, ob ihn das nicht an jemanden in unserem Land erinnere: Milliardär, abgewähltes Regierungsmitglied, Kopf einer von Skandalen unterhöhlten Partei, Medienmagnat, ein Isolationist, der überzeugt ist, alles Schlechte käme aus Brüssel. Und auch ein Clown, manchmal lustig, zumeist aber erbärmlich anzuschauen. Man muss bloss Fininvest durch Ems Chemie ersetzen, Mediaset durch die Weltwoche oder die Basler Zeitung, das italienische Ministerpräsidium durch den schweizerischen Bundesrat, Rubygate durch die Affäre Zuppiger und zuguterletzt Il Popolo della Libertà durch die SVP.Zwischen Beppe Grillo und Silvio Berlusconi versteckt sich Christoph Blocher.

Doch es sind nicht nur die Skandale, die sozialkonservative und wirtschaftsliberale Haltung, welche sie verbinden. Sie gleichen sich nicht nur darin, dass sie versuchen, sich als personifizierte Volksvertreter hinzustellen, welche gegen angebliche politische Eliten in den Kampf ziehen. Nein, sie haben vor allem auch gemeinsam, dass sie in den entscheidenden Momenten ihre persönlichen Interessen oder diejenigen bestimmter Kreise über das Allgemeinwohl stellen. Sie haben keine Hemmungen, das politische System blindwütig zu kritisieren und sich dann hinter ihrer parlamentarischen Immunität zu verstecken, um strafrechtlichen Verfolgungen zu entgehen.Christophe Blocher wie Silvio Berlusconi verteidigen meistens ihr persönliches politisches Interesse, manchmal die Interessen bestimmter Kreise und nie das Allgemeinwohl.

Miteinander oder alle gegen alle?

Genossinnen und Genossen

Mit der Kampagne, die nun zu Ende geht, verhält es sich nicht anders.Unsere politischen Gegner in der FDP und der SVP verteidigen die Privilegien weniger: jene der Bodenspekulanten gegen das Raumplanungsgesetz, jene der Bonus-Manager und der millionenschweren economiesuisse gegen die Abzocker-Initiative, jene von einem Drittel der Familien gegen all die Ehepaare, bei denen beide Gatten arbeiten müssen.Sie versuchen die Pfründe der einen wie der anderen zu schützen und empfehlen deshalb ein dreifaches NEIN.

Wir dagegen verteidigen das Allgemeinwohl und sagen deshalb drei Mal JA. Für alle statt für wenige. Unser Slogan passt einmal mehr genau in die politische Debatte. Er steht für unseren Kampf für eine Gesellschaft, in der jede und jeder einen Platz hat. Eine Gesellschaft, in der jede und jeder frei ist, das Leben in die Hand zu nehmen, ohne rücksichtslos die Ellbogen einsetzen und anderen ihren Platz wegnehmen zu müssen. Eine Gesellschaft, in der jede und jeder sicher sein kann, nicht am Wegrand liegen zu bleiben.Unsere Gegner wollen eine Gesellschaft des Alle gegen alle schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft des Miteinander.

Eine umfassende Kampagne für soziale Gerechtigkeit

Liebe Freundinnen und Freunde,

Natürlich kommt mit der Abzocker-Initiative nicht der Tag der Wende. Sie alleine genügt nicht, um die soziale Gerechtigkeit zu stärken. Die letzte Generalversammlung von Novartis hat gezeigt, dass die Aktionärsdemokratie nicht ausreicht, um die Saläre der Topmanager zu limitieren. Mehr als 95 Prozent der Aktionäre stimmten dem neuen Lohnreglement zu und erteilten Daniel Vasella Decharge. Besser könnte man die Grenzen nicht illustrieren, die hier existieren.

Über die konkreten Folgen dieser Volksabstimmung muss man sich keine Illusionen machen. Ich hoffe lediglich, dass im Fall eines Sieges so rasch als möglich eine Verordnung ausgearbeitet wird, um die Massnahmen der Initiative umzusetzen. Dies sollte innert einiger Monate möglich sein. Wir debattieren nun bereits seit fünf Jahren über diese Bestimmungen. Es ist den Bürgerlichen gelungen, die Abstimmung über diese Initiative fünf Jahre lang immer wieder hinauszuschieben. Sie hatten Angst davor, die Initiative noch vor den Eidgenössischen Wahlen behandeln zu müssen. Die Bürgerlichen schreckten vor keinem Ränkespiel zurück, um das Volk daran zu hindern, sich über diese Initiative auszusprechen. Morgen riskieren die Bürgerlichen – zumindest hoffe ich das – die Quittung für diese Strategie zu bekommen.

Aberdiese Initiative ist nur der Anfang.Wir müssen noch weiter gehen. Zunächst einmal müssen wir die Löhne der Top-Manager wirklich einschränken. Das Parlament wird die Gelegenheit haben, dies im Nachgang zur Minder-Initiative zu tun.Es kann die Versprechungen einlösen, welche von den Befürwortern der Initiative wie den Gegnern gemacht wurden, dem heute vorherrschenden Missbrauch einen Riegel vorzuschieben.Dazu sind jedoch weder die Initiative noch der Gegenvorschlag geeignet. Auch die bürgerlichen Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen sich bewusst werden, dass sich der Auftrag der Bevölkerung nicht darauf beschränkt, die Aktionärsrechte zu stärken. Die Botschaft ist klar, und selbst economiesuisse hat sie begriffen. Schaut Euch ihre Kampagne an: «Stopp, es reicht! Hört mit diesem Missbrauch auf! Wir können nicht mehr zuschauen, wie unsere Löhne stagnieren und die einer kleinen Elite explodieren.»Das ist die Botschaft.

Jeder und jede konnte es Dutzende Male hören. Und weder die Mühlen der NZZ noch das Unwohlsein unserer politischen Gegner oder die Prahlereien der Kommunikationsabteilung der UBS und von Martin Landolt, dem Hauptgegner der Initiative, ändern etwas daran. Der Auftrag, den diese Initiative gibt, ist klar in ihrem Titel enthalten: «Abzocker-Initiative». Und der Auftrag lautet «STOP».

Wir werden dafür kämpfen, den Anteil der Boni am Lohn zu begrenzen. Die EU hat dies für die Banker bereits gemacht: Ihre Boni dürfen nicht höher sein wie die fixen Lohnanteile. Wir gedenken die Idee einer Boni-Steuer wie auf den Tisch zu bringen. Und wir wollen Boni verbieten, wenn das Unternehmen Verluste einfährt oder Massenentlassungen respektive –restrukturierungen vornimmt.

Wir müssen in den Stunden, die uns jetzt noch bleiben, alles daran setzen, ein deutliches JA zur Minder-Initiative zu bekommen. Sie ist Teil einer grösseren Kampagne für mehr soziale Gerechtigkeit, für eine Begrenzung der höchsten Löhne und für eine Verbesserung der Situation der Mittelschicht und der breiten Volksschichten. Jene, welche – zu Recht – daran zweifeln, dass die Stärkung der Aktionärsrechte dazu beiträgt, die Lohnungleichheiten zu verringern, müssen sich den gesellschaftlichen Kontext bewusst machen. Ein JA zur Abzocker-Initiative ist ein Schrei des Aufbegehrens gegen eine weitere Zunahme der Ungleichheiten in unserem Land. Es ist die Weigerung weiter zuzuschauen, wie einige sich freimütig in den Kassen bedienen, während es der grossen Mehrheit immer schlechter geht. Die Abzocker-Initiative erlaubt es uns zu sagen, dass wir die Nase voll haben. Andere Projekte bringen Lösungen für dieses Problem.

Der Reihe nach werden wir abstimmen:

  • über die Volksinitiative «1:12» der Juso, welche voraussichtlich im September dieses Jahres vors Volk kommt. Sie verlangt, dass das Verhältnis zwischen dem tiefsten und dem höchsten Lohn in einem Unternehmen nicht mehr als 1:12 betragen darf.
  • über die Mindestlohn-Initiative. Sie garantiert allen Menschen, welche in einem Vollzeitpensum arbeiten einen Minimallohn von 4000 Franken.
  • über die Volksinitiative für eine Erbschaftssteuerreform, welche vor kurzem bei der Bundeskanzlei eingereicht wurde. Sie verlangt, dass Erbschaften von mehr als zwei Millionen Franken zu 20 Prozent besteuert werden, um so die AHV zu finanzieren.
  • über die Volksinitiative für die Abschaffung der Pauschalbesteuerung. Sie will die ungerechten Steuerprivilegien abschaffen, welche reichen Ausländerinnen und Ausländern gewährt werden.

In diesem Zusammenhang muss unbedingt auch unsere Volksinitiative für eine öffentliche Krankenkasse erwähnt werden. Sie soll den Missbräuchen der Krankenkassen-Manager und ihrer Lobby ein Ende bereiten. An dieser Stelle möchte ich zwei Dinge betonen:

  1. Die Initiative «1:12» wird uns allen besondere Anstrengungen abverlangen. Sie wird ermöglicht es uns, eine Grundsatzdebatte über die Lohnentwicklung in der Schweiz während der letzten Jahre zu führen. Wir müssen laut und unmissverständlich die Frage stellen: Ist es zulässig, dass der CEO, welcher im Stock über mir arbeitet, hundert Mal mehr verdient als ich? Und dass er in einem Jahr gleich viel Salär erhält wie ich in meinem ganzen Leben? Ist es gerecht, wenn die höchsten Löhne Jahr für Jahr steigen, während die Kaufkraft der grossen Mehrheit stagniert? Können wir es wirklich akzeptieren, dass in den letzten 15 Jahren die Einkommen von 10 Prozent der Leute um 28 Prozent stiegen, während die Löhne alle anderen Angestellten um weniger als 5 Prozent zunahmen? Diese Fragen sind wichtig. Die SP muss sich dieser Probleme annehmen. Wir müssen uns mit all unserer Kraft in der Kampagne für die Initiative der Juso engagieren. Natürlich macht diese Initiative unseren Gegnern Angst. Ihre Radikalität wird die Bürgerlichen dazu veranlassen, viel Geld in den Abstimmungskampf zu investieren. Es ist nicht sicher, ob wir diese Abstimmung gewinnen.Doch wir müssen die Debatte über die Initiative benutzen, um die Kräfteverhältnisse, das politische Klima und das Verhalten der Unternehmen sowie der Arbeitgeberschaft zu verändern. Die Initiative muss ein Markstein auf dem Weg hin zu einer Gesellschaft des Miteinander werden.
  2. Und die zweite Bemerkung : Mir wurde schon gesagt, dass Thomas Minder unsere Vision einer grossen Kampagne für die soziale Gerechtigkeit nicht teilt. Und dass wir seine Initiative missbrauchen, um sie in einen grösseren Kontext zu stellen. Das ist Unsinn. Erstens ist es kein Wunder, wenn mein Ständeratskollege Thomas Minder unsere politischen Standpunkte nicht teilt, denn er gehört der SVP-Fraktion an. Zweitens ist diese Abstimmung keine Abstimmung für oder gegen eine Person. Es geht genau genommen auch nicht um die Frage, ob die Aktionärsrechte ausgebaut werden sollen. Der Initiant weiss dies selber am besten: Er hat sein Volksbegehren nicht «Initiative für die Aktionäre», sondern «Abzocker-Initiative» genannt. Entscheidend ist im Falle eines Sieges letztlich der Wille des Volkes und nicht der Wille des Initianten. Und ich bin überzeugt,dass keine andere Vorlage eine bessere Antwort auf die Verbitterung der Bevölkerung über die Missbräuche der Manager-Kaste gibt als die Initiative «1:12».

Genossinnen und Genossen

Wir haben viel in die drei Kampagnen investiert, die jetzt zu Ende gehen. Wir haben 1,2 Millionen Kampagnenzeitungen gedruckt und verteilt. Wir haben uns immer wieder in Debatten begeben, Strassenstände organisiert und Verbündete gesucht, die uns in unseren Standpunkten stärken. Keine der drei Vorlagen entspricht in allen Punkten dem, was wir im Alleingang machen würden. Doch die Politik ist die Kunst des Möglichen. Wir haben es in diesen Kampagnen verstanden, weitestmöglich unseren Handlungsspielraum zu nutzen und, so hoffe ich, Mehrheiten zu finden.

Die Kampagnen zum Familienartikel und zum Raumplanungsgesetz sind in dieser Hinsicht exemplarisch. Ihr wisst alle:Wenn es darum geht, Beruf und Familie zu vereinbaren, neue Familienformen zu anerkennen und die Interessen der Kinder zu verteidigen, ist die SP einsame Spitze wie niemand sonst.Und das schon länger als alle anderen Parteien. Pragmatismus und Vernunft brachten uns dazu, in dieser Frage eine Allianz mit der CVP einzugehen und eine gemeinsame Vorlage zu präsentieren. Die Kampagne führte die CVP. Hoffen wir, dass unsere Verbündeten zuverlässig sind und wir zusammen einen Sieg feiern können. Ein Sieg, der es erlauben würde, die Familien in unserem Land besser zu unterstützen.

So oder so hatte diese Kampagne aber den Verdienst, dass die Partei von Philipp Müller entlarvt wurde. Die FDP sorgt sich gern um die Familien – allerdings einzig und alleine in Wahljahren. Sie spricht sich auch gerne dafür aus, dass Frauen wieder ins Berufsleben zurückkehren sollen.

  • Bei subalternen Posten aber lehnt sie Quoten ab. 
  • Bei mittleren Einkommen aber lehnt sie jegliche Zwangsmassnahmen für Lohngleichheit ab. 
  • Und Mütter sollen sich nach Ansicht der FDP selber um die familienexterne Betreuung ihrer Kinder kümmern, weshalb die Partei den Familienartikel ablehnt.

Die FDP bietet den arbeitstätigen Frauen keine Lösungen an. Auf dem Papier schon, da ist sie grosszügig. Aber nicht in der Realität. Wenn es darum geht, konkrete Probleme in der Familienpolitik anzugehen, ist die FDP nicht Teil der Lösung. Dann ist sie ist Teil des Problems.

Genossinnen und Genossen

Ich möchte Euch für Euer Engagement in diesen Kampagnen danken. Ich hoffe, es wird belohnt, und wir können ein dreifaches Ja feiern. Manche kämpfen bei den Ratingagenturen um ein «Triple A» für ihr Land. Lasst uns für ein dreifaches JA kämpfen: JA zu sozialer Gerechtigkeit, JA zu einem verantwortungsvollen Umgang mit unseren Bodenreserven und JA zu den Familien in unserem Land.

Und ich hoffe, wir können mit unseren Walliser, Basler und natürlich auch Solothurner Freunden die Erfolge ihrer Kandidatinnen und Kandidaten bejubeln. Für alle statt für wenige.

 

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