Es gilt das gesprochene Wort
In unruhigen und bewegten Zeiten ziehen sich Gesellschaften auf sich selbst zurück. Orientieren sich die Menschen an der Vergangenheit.
Unruhig und bewegt ist unsere Zeit, nicht nur in Europa, aber hier ganz besonders.
- Ein Ende der Krise ist noch nicht absehbar. Und noch viel weniger absehbar sind die langfristigen Folgen für die europäischen Gesellschaften. Die Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Ländern beträgt momentan bis zu 60 Prozent. Das menschliche Leiden ist kaum vorstellbar. Es ist die Rede von einer verlorenen Generation.
- Uns in der Schweiz geht es weit besser als unseren Nachbarn. Aber die Krise in Europa und der zunehmend globale Arbeitsmarkt verunsichern auch bei uns viele. Trotz der wirtschaftlich guten Situation ist es für über 50-Jährige schwierig, eine Stelle zu finden. Diese Zeit-Bombe muss entschärft werden. Dazu braucht es das Engagement aller verantwortungsvoller Kräfte – in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
- Zurzeit laufen tiefgreifende globale Entwicklungen. Die zweigeteilte Welt des kalten Krieges ist Geschichte. Der Aufstieg neuer Mächte macht das internationale System unberechenbarer; eine multipolare Welt ist im Entstehen begriffen, mit all den Unwägbarkeiten, die das mit sich bringt.
In dieser neuen Welt suchen wir unseren Platz. Dass das nicht einfach ist, ist klar: Die EU ist eine Gemeinschaft. Ein Zusammenschluss von Mitgliedern tritt natürlich fordernd auf, wenn man als Nicht-Mitglied mit ihm verhandelt.
Dazu kommen die Fragen, mit denen wir im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise konfrontiert sind. Mit einer unwahrscheinlichen Dynamik werden international neue Finanzmarktstandards entwickelt – Stichwort Datenaustausch, Transparenz, Steuerehrlichkeit. Der Finanzplatz Schweiz muss sich neu positionieren.
Dass wir uns unter Druck fühlen, ist verständlich. Die neue, instabilere Welt gefährdet unsere Identität und auch gewisse unserer Interessen.
Und ebenso verständlich ist es, dass viele Schweizerinnen und Schweizer am liebsten diesen Zumutungen der Gegenwart entkommen möchten. Nicht gleich bis zurück aufs Rütli; aber doch in die Zeit als die internationale Umgebung stabil war und die Rolle der Schweiz nie hinterfragt wurde.
Es ist gut, dass wir versuchen, das Gegenwärtige in das Gewesene einzuordnen. So verschaffen wir uns Klarheit über unsere Situation in einer Welt der Machtblöcke.
Ein genauer Blick zurück zeigt uns dabei, wie viel Zukunft in unserer Schweizer Vergangenheit steckt.
- Die Gründung des Bundesstaates 1848 war ein Akt von grossem Optimismus und Vertrauen in die Zukunft.
- In den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts pflegte unser Land die geistige Landesverteidigung; aber sie fand zur gleichen Zeit auch einen höchst zukunftsträchtigen Kompromiss, den Arbeitsfrieden. Dieser stärkt den Standort Schweiz bis heute.
- Wir können sogar vor die Zeit des Bundesstaates zurück gehen. Schon um 1830 exportierte niemand in Europa mehr als wir Schweizerinnen und Schweizer. Wir dürfen auch mit Stolz daran denken, dass wir – gleich nach Grossbritannien – jenes Land sind, das sich am frühesten industrialisierte.
Heute lesen wir routiniert Schlagzeilen wie „Schweiz bleibt Innovations-Spitze“. Wir neigen dazu, das als gegeben vorauszusetzen. Aber in Tat und Wahrheit ist es erstaunlich. Und erstaunlich ist vor allem, wie lange wir schon zu den technisch und wissenschaftlich fortschrittlichsten Ländern in der Welt gehören.
Fazit: Wir waren und sind nicht nur geschichtsbewusst – wir waren und sind auch zukunftsfreudig. Optimistisch. Voller Selbstvertrauen. Wir trauen uns viel zu. Und wir können zusammen viel erreichen.
Beides ist wichtig: Was war und was kommt.
- Das Verharrende, Traditionelle, sich der Vergangenheit Vergewissernde.
- Und der Blick nach vorne Richtung Zukunft. Mit Zuversicht.
Beides sind Konstanten der Schweizer Geschichte.
Unser Land brachte die besten Brückenbauer und Ingenieure hervor – aber auch den zivilisationskritischen Rousseau.
Zu einem nachhaltigen Fortschritt gehört eine gewisse Fortschrittsskepsis – aber diese darf nicht mehr Energie absorbieren als der Fortschritt selber.
Fortschritt und Beharren, Veränderung und Kontinuität: Unser Selbstverständnis ruht auf diesen beiden Pfeilern. Wenn wir einen schwächen, schwächen wir unser Land.
Rückbesinnung und Fortschritt – mit dieser Kombination werden wir auch die anstehenden Herausforderungen meistern. Beispielsweise den demographischen Wandel und seine Folgen. Dass die Menschen länger leben ist vor allem erfreulich; wir sollten in diesem Zusammenhang nicht immer nur über Finanzierungsprobleme sprechen.
Aber wir müssen auch Reformen anpacken, damit unsere Sozialversicherungen leistungsfähig und zuverlässig bleiben. Und damit der Zugang zum Gesundheitssystem für alle garantiert bleibt. Es geht um die soziale Sicherheit. Das wichtigste Fundament unserer Gesellschaft. Deshalb ist unser Ziel bei der anstehenden Reform der Altersvorsorge ganz klar, das Leistungsniveau zu erhalten.
Die zukunftsgerichtete Schweiz, die selbstbewusste Schweiz – sie hat sich immer den Realitäten gestellt.
Das gilt auch für unser Verhältnis zu den Realitäten der europäischen Politik. Die EU ist mit Abstand unser wichtigster Handelspartner. Und Europa ist unsere kulturelle Heimat. Wir müssen einen pragmatischen Umgang mit der EU finden – in unserem eigenen Interesse.
Das ist auch die Antwort auf die gegenwärtige Diskussion um globale Finanzmarktstandards: Ein pragmatischer Umgang mit einer neuen Realität.
Was uns dabei helfen kann, ist das Bewusstsein, dass die Kontinuität immer stärker sein wird als der Wandel. Der Kern unserer politischen Kultur hat schliesslich schon Zeiten überdauert, die viel unsicherer waren als die Gegenwart.
Wir sind ja momentan nicht von Feinden umzingelt, sondern einfach konfrontiert mit sich verändernden Realitäten. In dieser Situation gibt es keinen Grund, eine Wagenburg zu bilden. Sondern wir müssen selbstbewusst, kreativ und durchaus auch pro-aktiv auftreten.
Der Kern der Schweiz – direkte Demokratie, Föderalismus, kulturelle und sprachliche Vielfalt – muss selbstverständlich immer gewahrt bleiben.
Sich selbst zum Museum zu machen ist aber das Gegenteil einer vitalen, zukunftsfähigen Politik.
Wir müssen heute die Schweiz nicht neu erfinden; wir müssen sie nur neu entdecken – in ihrer Gesamtheit, mitsamt ihrer fortschrittlichen Dimension. Mitsamt ihrer Lust auf Zukunft und mitsamt Freude an Veränderung – denn auch das sind Schweizer Traditionen.
Verharren und beharren, bis es nicht mehr geht – das ist eine Haltung, die schlicht unter dem Niveau der Schweiz ist.
Wir sind Pragmatiker mit einem Geist des Aufbruchs!
In der Schweiz steckt viel Vergangenheit. Aber noch viel mehr Zukunft!