Der Vorschlag von Bundesrat und Parlament, mit der Sanierung des Gotthardstrassentunnels auch eine zweite Röhre zu bohren, ist abzulehnen. Das Projekt ist finanzpolitisch unvernünftig, verfassungsrechtlich problematisch und verkehrspolitisch unsinnig. Es ist eine gute Tradition schweizerischer Infrastrukturpolitik, dass die beschränkten Mittel möglichst optimal eingesetzt werden. Schliesslich kann jeder Franken nur einmal ausgegeben werden. Am symbolisch aufgeladenen Gotthard scheint dieser Grundsatz fiskalischer Verantwortung jedoch nicht zu gelten. Ideologischer Ballast wiegt bei dieser Abstimmungsvorlage mehr als nüchterne Berechnung.
Obwohl auf dem Schweizer Strassennetz Engpässe mit viel grösserem Verkehrsaufkommen bestehen, sollen am Gotthard weitere drei Milliarden verbaut werden. Das ist pure Verschwendung. Eine Sanierungslösung ohne Verdoppelung der Kapazität kostet nur rund eine Milliarde. Mit eingerechnet ist dabei auch ein tragfähiges Ersatzangebot auf der Schiene: ein kostenloser Autoverlad zwischen Göschenen und Airolo und ein Verlad für Lastwagen durch den neuen Gotthardbasistunnel. Transitlastwagen sollen direkt an der Grenze auf die Bahn verladen werden. Bis im Jahr 2010 war das auch die vom Bundesrat favorisierte Variante. Denn die Rechnung war und bleibt klar: Werden am Gotthard weitere Milliarden verlocht, fehlen sie für wichtigere Infrastrukturprojekte in den Agglomerationen. Die neue Röhre soll zudem nur zur Hälfte befahren werden – im Klartext: Die Steuerzahlenden finanzieren am Gotthard den teuersten Pannenstreifen der Welt.
Nicht nur finanziell, auch zeitlich schneidet die Sanierungsvariante mit zweiter Röhre schlecht ab. Bis die zweite Röhre gebohrt und die erste Röhre saniert ist, schreiben wir mindestens das Jahr 2030, möglicherweise auch bereits 2035. Bei der Sanierungsvariante mit dem Ersatzangebot auf der Schiene ist der Gotthardstrassentunnel bis 2025 saniert. Die Verdoppelung der Röhren entpuppt sich so als doppelte Ineffizienz: Sie ist teurer und langwieriger als eine reine Sanierung.
Es bestehen aber auch erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel: Warum eine bauliche Kapazitätsverdoppelung nicht dem verfassungsmässigen Verbot von Kapazitätserweiterungen widersprechen soll, ist nicht nachvollziehbar. Zumal die Verhinderung eines zweiten Gotthardstrassentunnels das Ziel des von Volk und Ständen angenommenen Verfassungsartikels zum Alpenschutz darstellte. Ob eine Strassenkapazität erhöht wird, hängt für den renommierten Staatsrechtler Alain Griffel von der baulichen Realität und nicht von einem gesetzlich verankerten Verkehrsmanagement ab. Darum kommt Griffel zum Schluss, dass die Vorlage des Bundesrates nicht mit der Verfassung vereinbar ist. Auch das Bundesamt für Justiz qualifizierte das vom Bundesrat gewählte Vorgehen als «staatspolitisch problematisch».
Der wichtigste Grund für ein Nein an der Urne ist aber letztlich ein verkehrspolitischer. Zwei Tunnelröhren, in denen je nur eine Spur befahren wird – das ist eine Mogelpackung oder eine Illusion. Spätestens im ersten Stau liesse sich dieses Konzept kaum aufrechterhalten. Und transitpolitisch macht eine bauliche Verdoppelung der Strassenkapazität die Schweiz gegenüber der EU erpressbar. Mit zwei Strassenröhren am Gotthard würde die kürzeste, durchgehend vierspurige Nord-Süd-Strassenverbindung Europas durch die Schweiz führen. Der Druck der mächtigen europäischen Transportindustrie, diese Strecke für den Schwerverkehr zu öffnen, würde unermesslich. Aus einer doppelten Kapazität könnte schon bald eine doppelte Anzahl Transitlastwagen werden.
Der Alpenschutz wäre Makulatur und die Neat konterkariert. Mit dieser grössten Investition in der Geschichte unseres Landes sollte der Güterverkehr auf die Schiene verlagert werden. Volk und Stände haben das entschieden und 1994 sowie 2004 zwei weitere Male wuchtig eine zweite Strassenröhre verworfen. Nun, einige Monate bevor der Gotthardbasistunnel als Jahrhundertbauwerk und Herzstück der Neat eröffnet wird und endlich die Bahnkapazität für die Verlagerung im Überfluss vorhanden ist, soll die Neat doch noch durch eine zweite Röhre torpediert werden? Das Volk tut gut daran, ein drittes Mal deutlich Nein zu sagen.
Erschienen in der NZZ vom 13. November 2015