Liebe Frauen, liebe Männer
Dieses Jahr ist unser Jahr: Es ist Wahljahr – und damit ein wichtiges Jahr für die Gewerkschaften und die Sozialdemokraten. Ganz besonders wichtig ist dieses Jahr aber auch für uns Frauen. Wir müssen dieses Jahr für unsere Anliegen nutzen, wir müssen uns vernetzen und stark auftreten, denn viele wichtige gleichstellungspolitische Themen stehen dieses Jahr auf der Agenda. Die von Alain Berset geleitete Rentenreform 2020 beispielsweise oder die Anpassung des bestehenden Familienrechts an die familienpolitischen Realitäten, die Simonetta Sommaruga in die Hand genommen hat.
Eine der wichtigsten Forderungen ist dieses Jahr aber die Lohngleichheit. Wir haben bereits am Weltfrauentag im März darauf hingewiesen und wir werden es am Frauenstreiktag am 14. Juni erneut tun. Es kann nicht sein, dass Frauen – und das sind immerhin 60 Prozent der gesamten Schweizer Bevölkerung – auch fast 20 Jahre nach dem Gleichstellungsgesetz und über 30 Jahre nachdem der Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung verankert wurde, immer noch weniger Lohn für ihre Arbeit erhalten. Frauen verlieren jeden Monat 1800 Franken – davon rund 700 Franken allein wegen ihres Geschlechtes. Diese 700 Franken können nicht mit unterschiedlichen Tätigkeiten, Branchen, Qualifikationen oder Anstellungsbedingungen erklärt werden, es handelt sich somit um eine unmittelbare Diskriminierung. Um auf den gleichen Jahreslohn wie Männer zu kommen, müssen Frauen somit drei Monate länger arbeiten. Stellen Sie sich mal vor, wie viel Arbeit Sie in drei Monaten leisten. Dann stellen Sie sich vor, Sie müssten jedes Jahr drei Monate zusätzlich arbeiten – für den gleichen Lohn. Und jetzt stellen Sie sich mal vor, sie müssten zusätzlich noch Kinder und pflegebedürftige Eltern betreuen – dann befinden Sie sich mittendrin in der Realität von zahlreichen Frauen in der Schweiz.
Um auf den gleichen Jahreslohn wie Männer zu kommen, müssen Frauen drei Monate länger arbeiten.
Ich weiss, was Sie jetzt denken: Frauen sollten halt einfach härter kämpfen. Mehr Lohn verlangen. Bessere Jobs annehmen. Auf schlecht bezahlte Teilzeitjobs verzichten. Die Crux dabei ist nur: Das machen wir bereits. Wir suchen uns das ja nicht freiwillig aus, wir denken ja durchaus auch mit. Das Problem ist ja nicht, dass wir uns schlecht bezahlte Arbeitsbereiche wie die Krankenpflege aus purem Spass an viel Arbeit und schlechtem Lohn aussuchen. Es ist vielmehr so, dass das kapitalistische System uns ausgesucht hat, um von uns zu profitieren: Frauen als das angeblich schwache Geschlecht werden seit Jahrzehnten ausgebeutet, es ist daher kein Wunder, dass traditionelle Frauenberufe wie eben beispielsweise die Betreuungsarbeit sehr schlecht bezahlte Bereiche sind.
Dasselbe Spiel zeigt sich bei der Karriere: Es ist ja nicht so, dass alle Frauen wunschlos glücklich in Positionen ohne Aufstiegschancen sind. Viele Frauen würden sehr gerne Kaderpositionen übernehmen – einige tun das übrigens auch schon seit Jahren und mit viel Erfolg –, aber sehr oft werden Frauen immer noch als Risiko wahrgenommen. Unsere biologische Uhr tickt, wie man ja so schön sagt, und dieses Ticken hören offenbar auch die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Weil Frauen schwanger werden können und weil Frauen nach wie vor einen Grossteil der Betreuungsarbeit leisten, will man ihnen keine Positionen mit viel Verantwortung zumuten.
Jetzt kommen wir aber zum schönsten Teil dieses ganzen Schlamassels: Frauen werden nicht nur schlechter bezahlt und haben schlechtere Aufstiegschancen, sie werden auch noch in ein System gedrängt, bei dem sich die Schlange selbst in den Schwanz beisst. Eine Studie des Nationalen Forschungsprogramms «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60) hat nämlich gezeigt, dass viele Mütter gerne wieder arbeiten würden – oft bleibt ihnen aber nur die Wahl, zu Hause zu bleiben. Der Grund dafür ist einfach: Männer verdienen mehr und dadurch treffen viele Paare die Entscheidung, dass halt die Frau zu Hause bleibt. Das ist eine Entscheidung, die ich absolut verstehen kann und die in vielen Fällen sicherlich auch Sinn macht. Man muss sich aber bewusst sein, dass das keine frei getroffene Entscheidung ist, sondern eine, die ökonomischen und politischen Zwängen unterliegt. Würden Frauen gleich viel wie Männer verdienen, könnten sehr viel überlegtere Entscheide getroffen werden und wenn Teilzeitarbeit und kürzere Arbeitszeiten zur Norm würden, könnten vielleicht sogar beide Elternteile Familie und Beruf vereinen. Im Klartext heisst das also: Frauen verdienen nicht nur weniger, sie können auch noch die Folgen ihrer ungleichen Entlöhnung ausbaden, indem sie durch ökonomische Zwänge aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden.
Männer verdienen mehr und dadurch treffen viele Paare die Entscheidung, dass halt die Frau zu Hause bleibt.
Sie leisten einen Grossteil der unbezahlten Arbeit, kümmern sich also um Haushalt, Kinder und pflegebedürftige Angehörige. Damit begeben sie sich aber auch in einen gefährlichen Teufelskreis: Wer später wieder arbeiten will, schafft den Einstieg ins Berufsleben oft nur schwer und oft mit einem tiefen Lohn. Da ein Grossteil der Betreuungsarbeit nicht bezahlt wird und Frauen vermehrt Teilzeit arbeiten, müssen sie im Alter auch mit einer kleineren Rente auskommen. An einem Tag wie dem 1. Mai muss deshalb unbedingt klar gestellt und fest gehalten werden: Frauen sind die grossen Verliererinnen unseres Wirtschaftssystems! Mit ungleichen Löhnen werden sie aus der Arbeitswelt gedrängt, erhalten für einen Grossteil ihrer Arbeit gar keinen Lohn und zum Dank für diesen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag kürzt man ihnen am Lebensende auch noch die Renten.
Wo bleibt da die Solidarität, auf die wir uns in der Schweiz so gerne berufen? Wo bleibt hier die Fairness? Und wo bleiben hier all jene, die für sozialdemokratische Werte kämpfen? Wenn wir in der Gleichstellung mehr erreichen wollen, brauchen wir nicht nur engagierte Frauen sondern auch engagierte Männer!
Wir müssen zusammen am gleichen Strick ziehen und uns nicht auf den destruktiven Kampf der Geschlechter einlassen. Wer Feminismus versteht, weiss, dass der Feminismus nichts anderes als Humanismus ist: Es geht einzig darum, Frauen als Menschen anzuerkennen und ihnen dieselben Rechte und Pflichten zuzugestehen, wie sie Männer seit Jahrhunderten erhalten. Anfangs Jahr habe ich auf meinen Blog einen Text mit dem Titel «Männer emanzipiert euch!» veröffentlicht. Der Text war die Antwort auf einen Beitrag des FDP Nationalrates Andrea Caroni in der Weltwoche. Caroni hatte sich darüber aufgeregt, dass die vom Bund herausgegebene Bilanz zur Gleichstellung von Frau und Mann 1999–2014 die Männersicht vernachlässigt habe. Ich verstehe dieses Argument von Caroni, sehe aber auch das strategische Kalkül, das dahinter steckt.
Es ist nämlich immer wieder das gleiche Spiel: Jedes Mal, wenn jemand es wagt, nur die weibliche Perspektive in den Blick zu nehmen, geht es nicht lange, bis ein Mann sich voller Entrüstung meldet. Fakt ist: Frauen wurden über Jahrhunderte hinweg systematisch benachteiligt, ausgebeutet, bedroht und aus dem öffentlichen Leben gedrängt. Noch heute ist es in vielen Kulturen so, dass Frauen als minderwertig angesehen werden, ihnen Grundrechte verweigert werden und ihr Leben als nicht lebenswert eingestuft wird. Dieser geschichtliche Aspekt muss mitbeachtet werden, ansonsten greift ein Blick auf die Gleichstellung der Geschlechter zu kurz. Das Argument von Caroni ist daher ein bisschen wie Rosinenpicken: Das grosse Ganze interessiert nicht, nur das Detail, das dem eigenen Profit dient. Leider lassen sich solche politischen Rosinenpicker insbesondere beim Thema der Gleichstellung finden: Immer wieder gibt es hier insbesondere männliche,
bürgerliche Stimmen, die sich von gleichstellungspolitischen Forderungen angegriffen fühlen, die darin nach Ungerechtigkeiten gegenüber Männern suchen, die sich beschweren und aufbegehren, wenn sie Privilegien aufgeben oder teilen müssen – die sich aber niemals für Frauenrechte einsetzen würden, für die Feminismus ein Schimpfwort ist und die sich auch ganz allgemein nie in gleichstellungspolitische Diskussionen eingemischt haben. Wie passt das zusammen? So funktioniert Gleichstellungspolitik aus meiner Sicht nicht und deshalb habe ich gefordert und fordere auch heute: Männer emanzipiert euch!
Dasselbe gilt auch für die Lohngleichheit. Wir brauchen Männer an Bord, die das vorherrschende kapitalistische System durchschauen, und nicht wegsehen, wenn die Arbeitskollegin schlechter bezahlt wird oder die eigene Frau ihren Job verliert, weil sie sich ums gemeinsame Kind kümmern muss. Wir brauchen Männer, die uns als Partner zur Seite stehen, die sich von der aktuellen Geschlechterordnung genauso beleidigt und diskriminiert fühlen wie wir, die anerkennen, dass Geschlechterstereotypen sehr wohl einen Einfluss auf das private Leben haben, dass diese uns behindern und Ungleichheiten schaffen, wo keine sein sollten. Wir brauchen Männer, die gemeinsam mit uns für die Lohngleichheit kämpfen, weil sie sich ihrer Privilegien bewusst sind und gewillt sind, diese in Hinblick auf eine gerechtere Gesellschaft aufzugeben oder zu teilen. Wir brauchen Männer, die nicht nur ein Stück vom Kuchen haben sondern auch einen Teil der Verantwortung tragen wollen; die also auch Teil der Kinderbetreuung sein wollen, die ihre Kinder aufwachsen sehen wollen, die weniger arbeiten und mehr leben wollen, die eine Gesellschaft wollen, in der alle – unabhängig von Geschlecht, Klasse und Herkunft – dieselbe Chance haben.
Wir brauchen Männer, die uns als Partner zur Seite stehen, die sich von der aktuellen Geschlechterordnung genauso beleidigt und diskriminiert fühlen wie wir.
Liebe emanzipierte Männer, ich weiss, dass es euch gibt und ich hoffe, ihr seid bereit, die Komfortzone zu verlassen. Es gibt einiges zu tun – und ganz besonders in diesem Jahr. Zu Beginn dieser Rede habe ich gesagt: Dieses Jahr wird unser Jahr. Und ich bin mir sicher, dass das so sein wird – und zwar insbesondere dann, wenn ihr mit uns gemeinsam an die Front steht und euch einsetzt für Lohngleichheit, für Elternurlaube, für Lohnkontrollen.
Diese Ziele können wir gemeinsam erreichen.
Ich wünsche euch allen einen schönen, kämpferischen 1. Mai!