Maurice Bavaud – Es gibt Dinge, die werden mit zunehmender Entfernung nicht kleiner, sondern grösser

Paul Rechsteiner, Ständerat SG

Paul Rechsteiner, Ständerat SG
Rede an der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des gescheiterten Hitler-Attentats von Maurice Bavaud in München; 9. November 2013

Kaum ein Herrschaftssystem, jedenfalls kein modernes, war derart auf eine einzige Person ausgerichtet wie das Nazi-Regime. Es gab verschiedene Ursachen dafür, weshalb die Nazis in diesem Tempo aufsteigen und ihr Terrorregime errichten konnten – und dafür so viel Gefolgschaft fanden. Sie sind ausführlich beschrieben worden. Aber letztlich funktionierte das Regime im Führer-Staat nur dank der Person Hitlers. Die Wehrmacht, aber auch die Beamten des deutschen Staates leisteten ihren Eid auf Hitler persönlich. Hitler war nicht austauschbar, wie Ian Kershaw in seinem Standardwerk über Hitler zeigt. Es wäre ohne Hitler kaum zu einem deutschen Angriffskrieg gekommen, der ganz Europa erfasste und Millionen den Tod brachte. Und es war Hitler, der die Vernichtung der europäischen Juden beschloss und ins Werk setzte, ein bis dahin unvorstellbarer Zivilisationsbruch in der Geschichte der Menschheit, der von einem der höchstentwickelten Länder der Welt ausging. Damit Hitler seine Herrschaft ausüben konnte, brauchte er Millionen, die ihm folgten. Aber Hitler war die nicht austauschbare Zentralfigur des Terrorsystems.

Warum gab es so wenige Attentate auf Hitler? Wenn Hitler ausgeschaltet worden wäre, hätte dies Millionen von Menschen das Leben gerettet und Europa und der Welt unermessliches Leid erspart. Roger Moorhouse, er ist wie Ian Kershaw ein englischer Geschichtsprofessor, geht in seiner vor wenigen Jahren erschienenen Studie „Killing Hitler“ der weitgehend unbekannten Geschichte der Attentate auf Hitler nach. 

Die Tat von Maurice Bavaud vom 9. November 1938 und jene von Georg Elser exakt ein Jahr später ragen unter den gescheiterten Attentaten heraus. Maurice Bavaud und Georg Elser haben nicht erst gegen das Kriegsende gehandelt wie die Offiziersverschwörer vom 20. Juli 1944. Es waren Taten von mutigen Einzelpersonen, einfachen Leuten, die ihre Augen vor dem, was in Deutschland in aller Öffentlichkeit vor sich ging, nicht verschlossen. Beide entschlossen sich unter dem Einsatz des eigenen Lebens zum Handeln. Und beide taten es in München, wo der Aufstieg Hitlers zur Macht begonnen hatte.

Wäre das Attentat von Maurice Bavaud gelungen, so hätte es eine weltgeschichtliche Dimension. Aber auch so bleibt seine Bedeutung gross, als ernsthafter Versuch, der mörderischen Entwicklung Einhalt zu gebieten, die sich vor den Augen aller abzeichnete. Hitler jedenfalls nahm den Attentatsversuch sehr ernst. Die strikte Geheimhaltung des gescheiterten Attentats aus Angst vor Nachahmern kam nicht von ungefähr. Auch das Verbot von Schillers Wilhelm Tell steht unmittelbar im Zusammenhang mit der mutigen Tat von Maurice Bavaud.  

Warum tat sich die Schweiz, die offizielle Schweiz, so schwer mit Maurice Bavaud? Es ist eine Schande, wie die Schweizer Gesandtschaft in Berlin, Botschafter Frölicher und Legationsrat Kappeler, Maurice Bavaud im Stiche liessen und ihm selbst den minimalsten konsularischen Beistand verweigerten. Frölicher und Kappeler spielten bekanntlich nicht nur im Zusammenhang mit Bavaud, sondern auch bei der Einführung des Judenstempels, im Zusammenspiel mit den Behörden in Bern, eine unrühmliche Rolle. Im Umgang mit Bavaud offenbarte sich eine bedenkliche Nähe der Gesandtschaft zum braunen Regime. Frölicher bezeichnete den Attentatsversuch im Schriftverkehr mit Bern als „verabscheuungswürdige Tat“ und verhielt sich entsprechend. Leider gingen auch die Behörden in Bern mit der Familie Bavaud nicht besser um; der Vorschlag des Vaters, eines braven und staatstreuen Postbeamten, für einen Gefangenenaustausch mit einem der prominenten deutschen Spione wurde nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Das anpasserische Verhalten der Schweizer Behörden steht in einem merkwürdigen Kontrast zum mutigen Antrag des Berliner Pflichtverteidigers Franz Wallau auf Freispruch, der seine aufrechte Haltung später durch eine Gestapo-Haft und ein Berufs-Ehrengerichtsverfahren zu bezahlen hatte. Das Beispiel des Pflichtverteidigers Franz Wallau zeigt, dass es auch auf dieser Stufe in schwieriger Zeit Spielräume gab, um zu handeln. Sofern man nur wollte und das nötige Rückgrat dafür aufbrachte.

Das Verhalten der damaligen Behörden ist das eine; die lang anhaltende Verdrängung der Erinnerung an Maurice Bavaud in den späteren Jahrzehnten das andere. Und es blieb nicht bei der Verdrängung. Der bekannte Zürcher Historiker Klaus Urner war der erste, der die Geschichte des Schweizer Hitlerattentäters gründlicher erforschte. Urner führte das Handeln Bavauds auf pathologische Motive zurück. Was für Mechanismen sind am Werk, wenn eine Tat, welche Deutschland, Europa und die Schweiz vor einer nie dagewesenen tödlichen Bedrohung befreit hätte, nicht anders motiviert sein kann als durch Wahnvorstellungen? Und der Wahnsinn statt bei Hitler und dem Nazi-System am Hitler-Attentäter festgemacht wird?

Es ist das Verdienst von Niklaus Meienberg, die Geschichte von Maurice Bavaud und seiner Tat neu aufgearbeitet zu haben. Nicht nur in den Archiven, sondern auch unter Einbezug von in den 70er Jahren noch lebenden Zeitzeugen. Das Buch „Es ist kalt in Brandenburg“ und der gleichnamige Film von Villi Hermann, Hans Stürm und Niklaus Meienberg sind mit der Reise durch ein bleiernes Deutschland auch eindrückliche Dokumente der Mentalitätsgeschichte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Woher kommt das Bestreben, die Motive des mutig Handelnden zu diskreditieren? Ähnliches erlebte auch der Flüchtlingsretter Paul Grüninger, gegen den systematisch Gerüchte gestreut wurden, er habe das für Geld gemacht, obschon gerichtlich das Gegenteil festgestellt worden war. Im mutigen Verhalten in schwerer Zeit liegt offenbar eine Provokation, die ein Unbehagen verursacht. Weil die politischen Entwicklungen, die geschichtlichen Entwicklungen, oft nicht so unausweichlich sind, wie sie zu sein scheinen.

Maurice Bavaud gebührt in der Geschichte des Widerstands gegen die Nazi-Herrschaft ein prominenter Platz. Zusammen mit Georg Elser. Hätte es mehr solcher Menschen gegeben, wären die Nazis nicht so weit gekommen.

Auf der Reise aus der Schweiz nach München zeigt sich plötzlich eine andere Geografie: Eine Geografie des Widerstands. Das Gegenstück zur Geografie des Schreckens. – Der heutige Anlass markiert nicht einen Abschluss. Er schlägt ein neues Kapitel lebendiger Erinnerung auf.

Es gibt Dinge, die werden, je weiter man sich von ihnen entfernt, nicht kleiner, sondern grösser. Die Taten von David Frankfurter, der 1936 in Davos den Gauleiter Gustloff erschoss, von Maurice Bavaud, Georg Elser, aber auch das menschliche Verhalten des St. Galler Polizeihauptmanns Paul Grüninger und der vielen bekannten und unbekannten Fluchthelfer in den Grenzregionen der Schweiz, auch sie meist einfache Leute, gehören dazu. 

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