Von Lynn Jacobshagen, Ärztin
Ich schliesse mich der Initiative für eine längere Elternzeit an, weil die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, Säuglinge sechs Monate lang ausschliesslich zu stillen. Nach Einführen der Beikost, zu welcher die WHO um den 6. Lebensmonat rät, gilt die Empfehlung, das Stillen für zwei Jahre oder länger fortzusetzen. Wenn es die Mutter denn kann und möchte. Aber kann frau dies in der Schweiz? Bei 14 Wochen Elternzeit wohl kaum.
Ein Artikel der NZZ vom Februar 2024 zeigt, dass das Thema Stillen und Elternzeit aktuell ungelöst bleibt. Es wird beschrieben, dass die Rate der stillenden Mütter drastisch sinkt, nachdem die 14-wöchige Elternzeit vorbei ist: nämlich von 62 auf 26 Prozent. 14 Wochen sind nur knapp mehr als die Hälfte der empfohlenen 6 Monate.
Es existieren Arbeitsstellen mit Stillräumen, aber wie geht das bei einer Lockführerin? Oder einer Lehrerin? Oder einer Pflegenden oder Ärztin in der Notaufnahme, wie mir? Ich hätte diese Zeit nicht und bin jeweils froh, wenn ich während meiner Schichten überhaupt zu Mittag respektive zu Abend essen kann.
In den 38 OECD-Ländern, zu denen auch die Schweiz gehört, beträgt die Elternzeit im Mittel 54,4 Wochen. Das sind 40 Wochen mehr als bei uns! Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) betitelt die Schweiz gar als familienunfreundlichstes Land Europas. Ich finde das frappierend.
Damit sind wir beim Thema Gleichstellung und Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern, das gerade im Berufsfeld der Medizin so drängend ist, immerhin sind inzwischen 60 Prozent der frisch examinierten Ärzt:innen weiblich. Hätte der Mann mehr Elternzeit, würde die teuer ausgebildete Ärztin weniger genötigt, ihren Beruf, zumindest vorübergehend, aufzugeben – die Verantwortung wäre besser aufgeteilt. Und vielleicht würde sich dann die Schweizer Kinderrate von zurzeit 1,39 Kindern pro Frau dem EU-Durschnitt von 1,46 anzunähern beginnen.
Zurück zum Stillen, um mit einer positiven Nachricht zu schliessen: Wer länger stillt, hat ein niedrigeres Risiko an Brustkrebs zu erkranken.
Quellen:
- Nahrungsmittel für Säuglinge und Kleinkinder: ein Grund zur Besorgnis? (WHO)
- Grundlagen zum Stillen (Stillfoerderung.ch)
- Was bewirkt die Elternzeit? (CHSS)
- Mütter sollen mehr Zeit zum Stillen bekommen (NZZ)
- Die Schwierigkeiten von stillenden Lehrerinnen (NFZ)
- SBB verweigern stillenden Lokführerinnen die Arbeit (Beobachter)
- Die Schweiz ist wenig familienfreundlich (UNICEF)
- Internationale Vergleiche zu familienergänzender Kinderbetreuung (BfS)
- Früh ein Kind bekommen und lange stillen – das schützt am besten vor Brustkrebs (ÄrzteZeitung.de)