Und doch oder vielleicht wegen diesen offensichtlichen Widersprüchen ist heute ein „Klimawandel“ spürbar. Damit meine ich aber nicht den Klimawandel, welcher unsere Lebensgrundlage bedroht, sondern den Wandel des gesellschaftlichen Klimas. Die Unzufriedenheit wächst: Das Unverständnis gegenüber massiven Lohnunterschieden, gegenüber überrissenen Salären und Vergütungen gewisser Manager, aber auch gegenüber der wachsenden Zersiedelung und dem Bodenverschleiss steigt. Dies belegen beispielsweise die Abstimmungen vom 3. März zur Abzockerinitiative und zum Raumplanungsgesetz.
Aber auch die 20‘000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kundgebung vom 16. März auf dem Bundesplatz setzten ein starkes Zeichen gegen den Leistungsabbau in unserem Kanton, für gute Arbeitsbedingungen und konkurrenzfähige Löhne. Wir wehren uns gegen Sparmassnahmen, die vor allem Bildung, Gesundheitsversorgung und öffentlichen Verkehr treffen.
Ich beobachte diesen schleichenden „Klimawandel“ in der Gesellschaft seit einiger Zeit. Immer mehr Menschen nehmen wahr, welche Folgen unser Leben auf grossem Fuss hat. Immer mehr Menschen merken, dass unsere Gesellschaft sich diesen Lebensstil nicht unbeschränkt leisten kann. Immer mehr Menschen fühlen, dass ein Wandel nötig ist.
Der 1. Mai ist ein Tag, an dem wir die Entwicklungen unserer Zeit kritisch betrachten, und uns fragen, was anders sein müsste, damit unser Zusammenleben gesellschaftsverträglicher und nachhaltiger wird. Denn erst durch kritisches Hinterfragen ist eine Weiterentwicklung möglich. Der 1991 verstorbene Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Architekt, Max Frisch war diesbezüglich ein Vorbild. Er wurde über die Landesgrenzen hinaus als „Stimme“ wahrgenommen und setzte sich kritisch mit seiner Zeit und den gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Durch hinterfragen und sich einmischen nahm er seine Verantwortung als Bürger wahr. Solche „Stimmen“ braucht es auch heute.
Der 1. Mai ist in erster Linie auch der Tag für mehr Gerechtigkeit. Denn das ist es, was uns alle antreibt. Wir sind die Partei für mehr Gerechtigkeit und Fairness. Die SP hat in den letzten 125 Jahren viel erreicht: Zu Beginn der Arbeiterinnenbewegung war es etwa das Kinderarbeitsverbot, später der 9-Stunden-Tag. Vergessen wir nicht die AHV, die IV, die Arbeitslosen- oder die Mutterschaftsversicherung. Sie gibt es nur dank der SP.
Doch immer noch liegen grosse Herausforderungen vor uns:
Frauen erhalten in der Schweiz für die gleiche Arbeit noch immer nicht denselben Lohn wie Männer. Das ist unverständlich und unwürdig. Das muss korrigiert werden.
Es braucht aber auch generell mehr Lohngerechtigkeit. Der Schweiz geht es wirtschaftlich zum Glück im Vergleich mit vielen anderen Ländern in Europa gut. Dass dies so ist, liegt aber nicht einfach an genialen Führungskräften, sondern an allen, die mitgearbeitet haben. Bei all unserem Erfolg und Wohlstand sollten wir bescheiden bleiben.
Bescheidenheit ist genau das, was wir bei gewissen Bezügern von Millionengehältern vermissen.
Wenn wir hohe Löhne kritisieren, stören wir uns nicht primär daran, dass jemand viel verdient. Uns stört, dass jemand so viel mehr verdient als alle anderen. Viele Topkader haben ihre Bezüge erhöht, obwohl es ihren Firmen schlechter ging, obwohl ihre Banken von uns Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern gerettet werden mussten. Uns stört, dass es gleichzeitig Familien gibt, die mit ihrem Lohn nicht über die Runden kommen und auf den Sozialdienst angewiesen sind.
Solch krasse Ungleichgewichte gefährden den sozialen Zusammenhalt. Sie sind ein Hohn für all jene Leute, die jeden morgen früh aufstehen, pünktlich zur Arbeit erscheinen und trotzdem auf keinen grünen Zweig kommen.
Deshalb hat die JUSO die 1-zu-12-Initiative gesammelt, die den exorbitanten Lohnbezügen einen Riegel schieben will. Auch hier ist ein „Klimawandel“ spürbar. Das Lohnverhältnis eines Unternehmens wurde zu einem wichtigen Indikator und das Unverständnis gegenüber massiven Lohnunterschieden ist gewachsen. Zu Recht: Wie wir gestern in den Zeitungen lesen konnten, öffnete sich die Lohnschere in den letzten Jahren massiv. Während die obersten Löhne zwischen 1994 und 2010 um 15 Prozent zugelegt haben, wuchs der mittlere Lohn gerade mal um 7 Prozent.
Diese Entwicklung ist aber auch aus wirtschaftlicher Betrachtung fragwürdig. So zeigen beispielsweise die beiden US-amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger Paul Krugman und Joseph Stiglitz in ihren jüngsten Büchern, dass eine ungleiche Einkommensverteilung für die Wirtschaft gefährlich sein kann.
Wer zu 100 Prozent arbeitet, muss davon leben können. Leider ist dem heute nicht immer so: Ich denke dabei etwa an das Phänomen der Working Poor oder an Fälle von Lohndumping. Mindestlöhne wären ein Instrument dagegen. Die Personenfreizügigkeit ist wichtig für die Schweiz und unsere Wirtschaft. Aber es braucht noch wirksamere flankierende Massnahmen, welche die negativen Folgen für die Bevölkerung abfedern. Ich denke dabei neben Lohndumping vor allem auch an die explodierenden Mieten.
Krasse Ungleichheit entsteht aber nicht nur durch Lohnungleichheit. So haben viele Superreiche ihr Geld gar nicht selber verdient, sondern geerbt. Eigentum verpflichtet – so steht es im deutschen Grundgesetz, dem Gegenstück zu unserer Verfassung. Das stimmt. Auch deshalb ist es höchste Zeit, dass wir eine nationale Erbschaftssteuer einführen. Damit erreichen wir, dass gewisse Vermögenswerte wieder in die Gesellschaft zurückfliessen und helfen, künftige Herausforderungen wie die Finanzierung der AHV sicherzustellen. Das schafft mehr Gerechtigkeit.
Liebe Parteikolleginnen und Parteikollegen, liebe Gäste. Ich habe dafür plädiert, dass wir uns als Partei für mehr Gerechtigkeit verstehen. Das ist aus meiner Sicht unbedingt nötig, um unserer gesamten Themenvielfalt gerecht zu werden.
Denn auch die Energiewende hat mit Gerechtigkeit zu tun. Wenn wir Atomstrom produzieren, so profitiert die heutige Gesellschaft zwar kurzfristig von angeblich billigem Strom. Die Folgen müssen aber unsere Kinder, Grosskinder und Urgrosskinder tragen: Der radioaktive Müll wird uns alle überdauern.
Auch bürden wir den nächsten Generationen Kosten auf: Die Fonds, welche die AKW-Betreiber bilden, um die Stilllegung und Entsorgung zu finanzieren, werden kaum ausreichen. Das habe ich kürzlich mit drei Nationalratskollegen an einer Medienkonferenz publik gemacht.
Damit es für unsere Nachkommen kein böses Erwachen gibt, mache ich auch im Parlament in dieser Angelegenheit Druck und reichte Vorstösse ein.
Die SP ist also auch die Partei der Enkelgerechtigkeit.
Liebe Zeitgenossinnen, liebe Zeitgenossen,
Eines ist bei all den Herausforderungen unserer Zeit identisch: Die grossen Verliererinnen und Verlierer bei Lohnungleichheit und beim Klimawandel sind vor allem die sozial Schwächeren. Sie verlieren zuerst den Job. Und sie leiden zuerst unter den Folgen des Klimawandels. Denn Umweltprobleme sind eindeutig auch soziale Fragen: Wer wohnt an den lautesten Strassen und Autobahnen? Wer kann sich keine gesunde Bionahrung leisten? Wer ist am stärksten von Umweltgiften am Arbeitsplatz bedroht? Die sozial Schwächeren, die schlechter Ausgebildeten.
Sie sind es auch, die am wenigsten profitieren von Steuersenkungen. Die Sparmassnahmen, welche aktuell im Kanton Bern drohen, betreffen sie aber umso stärker.
Wenn wir uns alle gemeinsam engagieren für mehr sozialen Ausgleich und gegen kurzfristige Profitmaximierung, können wir unserem Ziel näher kommen: Wir wollen mehr Gerechtigkeit – im Hier und Jetzt, aber auch für unsere Kinder, Grosskinder und Urgrosskinder!
Deshalb möchte ich zu guter Letzt euch allen ganz herzlich danken: Merci, dass Ihr heute alle an die 1. Mai-Feier gekommen seid. Danke, dass Ihr Euch auch in diesem Jahr für unsere Sache einsetzt. Es braucht uns mehr denn je. Und Ihr leistet einen wichtigen Beitrag. Ein grosses Dankeschön!