Elisabeth, du wurdest in den Bundesrat gewählt, obwohl dir die Medien nur geringe Chancen eingeräumt hatten. Was war dein erster Gedanke, als das Wahlergebnis bekannt gegeben wurde?
In dem Moment konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich verspürte vor allem Freude und Dankbarkeit für das Vertrauen, das mir die Bundesversammlung entgegenbrachte. Es ist mir eine grosse Freude und Verantwortung, meine Ideen in die Landesregierung tragen zu können. Und es stimmt: Meine Wahl war eine Überraschung. Aber sie war nicht zufällig.
Bestimmt ist deine Agenda seit Amtsantritt sehr voll. Wie hast du dich an den hektischen Arbeitsalltag als Bundesrätin gewöhnt?
Ich habe eine Wohnung in Bern und verfüge so über einen Ort, wo ich mich erholen kann. An das Leben als Bundesrätin habe ich mich sehr rasch gewöhnt. Das Amt verlangt einem sehr viel ab. Das wird wettgemacht durch die Freude am Amt und das Privileg, diese Verantwortung tragen zu dürfen. Ich wache jeden Morgen auf und freue mich darauf, mich den vielfältigen Aufgaben widmen zu dürfen und Strategien für mein Departement und für die Landesregierung zu erarbeiten.
Was war deine erste wichtige Entscheidung, die du als Bundesrätin getroffen hast?
Das verheerende Erdbeben, das Anfang Jahr die Türkei und Syrien getroffen hat, war ein prägender Moment. Ich habe damals sehr schnell Massnahmen beschlossen, um den Opfern zu helfen, die Verwandte in der Schweiz haben. Ausserdem war die Entscheidung wichtig, dass Geflüchtete aus der Ukraine ihre Ausbildung in der Schweiz beenden können.
Du bist immer wieder harter Kritik ausgesetzt, hauptsächlich von rechts. Warum?
Ich verkörpere die Solidaritätspolitik der SP, ich bin eine Frau, eine Romande und ich bin eine Kämpferin für unsere Anliegen – alles Faktoren, die nicht überall Beifall finden. Ausserdem ist die Migrationspolitik in meinem Departement angesiedelt, ein Thema, das für die Politik gewisser Parteien eine zentrale politische Rolle spielt. Die Kritik beeinflusst mich jedoch nicht besonders. Mir ist wichtig, meine humanitäre Haltung zu verteidigen und in der Bevölkerung mit Argumenten Verständnis zu wecken für diese gesellschaftlichen Fragen und die Achtung der Menschenwürde.
Einige Parteien spielen mit der Angst, indem sie behaupten, es gebe an der Landesgrenze massive Flüchtlingsströme. Gleichzeitig weigern sich dieselben Kreise, dich bei der Suche nach Lösungen zu unterstützen. Was tust du konkret in diesem Bereich?
In der Politik ist es zentral, dass sich Entscheidungen auf Fakten stützen und nicht auf Gefühle. Es ist eine Tatsache: Wir sehen derzeit eine starke Zunahme der Zuwanderung. Der Krieg in der Ukraine belastet das Asylwesen stark, und es ist eine Herausforderung, die Asylanträge mit der nötigen Sorgfalt zu bearbeiten. Wir brauchen daher genügend Ressourcen, um die Anträge schnellstmöglich zu behandeln. Die Schweiz ist in der Lage, Menschen aufzunehmen, die ein Recht auf unseren Schutz haben. Dabei müssen wir den Schwerpunkt auf die Integration legen, insbesondere in den Arbeitsmarkt.
International beobachten wir ein Erstarken von konservativen und reaktionären Bewegungen, deren Anhänger einige hart erkämpfte Rechte in Frage stellen, etwa das Recht auf Abtreibung. Auch in der Schweiz tauchen entsprechende Forderungen auf.
Es ist zunächst erfreulich, dass die Bevölkerung auf gewisse rückwärtsgewandte Forderungen nicht eintritt. Die Unterschriftensammlung zur Einschränkung des Rechts auf Abtreibung ist ja bekanntlich gescheitert. Ausserdem stellen wir fest, dass sich viele dieser reaktionären Bewegungen auf fragwürdige Argumente stützen. Umso mehr müssen wir faktenbasiert argumentieren. So sind wir erfolgreich. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Verschärfung der Antirassismus-Strafnorm gegen Homophobie. Einige Kreise waren zunächst kritisch. In Gesprächen konnte aber die tatsächliche Bedeutung und Tragweite aufgezeigt werden, was schlussendlich zur Akzeptanz der Vorlage führte.
Das Parlament hat kürzlich einer Revision des Sexualstrafrechts zugestimmt. Was bedeutet das für die Opfer sexueller Gewalt?
Einer der wichtigsten Fortschritte besteht darin, dass die Definition von Vergewaltigung neu für alle Opfer sexueller Gewalt gilt, unabhängig von ihrem Geschlecht. Darüber hinaus stärkt dieses Gesetz das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Ebenso werden Präventionsprogramme gestärkt. Die Behörden müssen das Gesetz nun sorgfältig umsetzen. Es muss sichergestellt werden, dass die Opfer angehört und während des gesamten Prozesses – von der Anzeige bis zum Urteil – von Fachleuten begleitet werden.
Im Mai hast du zum Internationalen Tag zur Beseitigung der Armut erklärt: «Der Kampf gegen Armut hat Vorrang.» Ist es in einem reichen Land wie der Schweiz nicht paradox, die Armutsbekämpfung priorisieren zu müssen?
Es mag seltsam scheinen, ist aber entscheidend. In der Schweiz verfügen wir im Allgemeinen über ein gutes soziales Netz. Doch leider fallen immer noch zu viele Menschen durch die Maschen. Einige machen ihre Ansprüche auf Unterstützung nicht geltend. Manche fürchten die Konsequenzen, wenn sie Sozialhilfe beziehen müssen: Scham spielt eine Rolle, und viele Ausländer:innen fürchten die Abschiebung. Oder sie wissen nicht, dass sie Anspruch auf Sozialhilfe hätten. Aus meiner eigenen Berufserfahrung weiss ich, dass der Bezug von Sozialhilfe immer noch stigmatisiert ist. Die Beträge sind bescheiden, Sozialhilfebezüger:innen müssen sich ständig rechtfertigen und werden von den Behörden überwacht. Viele Menschen leben nur knapp über der Armutsgrenze. Bereits eine kleine unerwartete Rechnung kann hier in die Verschuldung führen.
Am 1. August hast du die Jugend aufgerufen, sich politisch zu engagieren. Man könnte einwenden, dass sich junge Menschen in Vereinen, Bürgerbewegungen oder online einbringen. Sind es vielleicht die politischen Parteien, die überholt sind?
Mich fasziniert, wie die Jugend politisiert. Es motiviert, wenn sich junge Menschen vermehrt in Bürgerbewegungen engagieren, etwa beim 1. Mai, beim feministischen Streik oder bei den Klimademos. Ich sehe dazu aber keinen Wiederspruch zu einem Engagement in einer politischen Partei. Es braucht beides, damit fortschrittliche Kräfte Gehör finden. Es ist unsere Aufgabe, die Forderungen der Strasse – sozusagen die kollektive Intelligenz der Strasse – in die politischen Institutionen des Landes zu tragen. In meinen Augen sind politische Parteien keinesfalls veraltet. Die SP verzeichnet viele Beitritte von neuen und häufig jungen Genossinnen und Genossen. Was junge Menschen möglicherweise abschreckt, sind schwerfällige Parteistrukturen sowie die Diskrepanz zwischen ihren Ansprüchen und tatsächlichen Möglichkeiten, sich einzubringen.
Zu guter Letzt: Welche grossen Projekte willst du angehen?
Mit liegen die Migration und die Integration sehr am Herzen. Ich möchte den Zugang zu Bildung und damit zum Arbeitsmarkt erleichtern, denn Integration findet gerade bei der Arbeit statt. So können wir unserer humanitären Tradition folgen und gleichzeitig dem Arbeitskräftemangel begegnen.
Weiter möchte ich dazu beitragen, die Regeln für verantwortungsvolle multinationale Unternehmen voranbringen. Schweizer Regeln müssen auf internationaler Ebene harmonisiert werden können. Schliesslich liegt mir ein Projekt besonders am Herzen: Die Schaffung einer interkantonalen Plattform, die die Zusammenarbeit verschiedener Dienste im Bereich häuslicher Gewalt erleichtert. Es braucht noch viele Schritte, bis Opfer von häuslicher Gewalt bestmöglich geschützt, unterstützt und begleitet werden können.